Sekunde der Wahrheit
jetzt um Kimberley steht, wage ich ihr gegenüber nicht einmal mehr das Thema auch nur anzuschneiden. Und wenn Ihnen all das unglaublich vorkommt, dann stehen Sie damit nicht allein da.«
»Von solchen Abwesenheiten habe ich natürlich schon gehört«, sagte Clay. »Man kennt sie ja selbst, wenn man beispielsweise zu viel getrunken hat.«
»Ich erinnere mich dunkel«, sagte Andrew trocken, hatte aber nicht die Absicht, jetzt auf Lord Randolphs Ableben anzuspielen. »Und akzeptiere es.«
»Die Frage ist nun, wie lang wir warten sollen, ehe wir etwas unternehmen.«
»Genau, Clay. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie es mich erleichtert, mit jemandem darüber reden zu können.«
»Mir geht es ähnlich.« Clays Pupillen verengten sich, und eine Spur Vorsicht lag in seinem Tonfall. »Wenn die Polizei sie auffinden würde, gäbe es Fragen. Und wenn sie sich wirklich nicht entsinnen kann, würden die Fragen sie noch mehr aufregen.«
»Wenn sie auf der anderen Seite einen Unfall baut oder krank ist oder mit den falschen Leuten …« Er brach ab, denn er spürte, daß Clay die gleichen Gedanken bewegten. »Das sind alles Probleme, und noch mehr.«
Andrew hoffte, daß er nicht so müde und hoffnungslos und ausgebrannt klang, wie er sich plötzlich fühlte, wo er nun seinen Befürchtungen freien Lauf ließ.
»Sie fuhr natürlich den Porsche?«
Und als Andrew nickte, fuhr Clay fort:
»Die verdammte Kiste macht hundertachtzig und noch mehr, was?«
»Das weiß ich nicht so genau.«
»Gibt es eine Möglichkeit, sich über mögliche Unfälle zu informieren?«
»Wo? Zwischenzeitlich kann sie schon in New York sein, wo sie übrigens schon ein paar Mal wieder zu sich gekommen ist. Oder sie kann sich auf dem Weg nach Kalifornien oder Mexiko befinden. Wenn sie zu sich kommt, weiß sie nichts, und das erschreckt sie noch mehr.«
»Wie lange sollten wir warten?«
»Was meinen Sie?« Seine Stimme klang rau.
»Woher soll man das wissen? Wenn man es sich später überlegt, wenn etwas passiert ist, macht man sich ewig Vorwürfe, daß einem nicht das Richtige zum richtigen Zeitpunkt eingefallen ist. Aber wie soll man wissen, was man tun soll? Sollte die Polizei sie finden – was nicht sonderlich wahrscheinlich ist, denn sie werden sich nicht sehr bemühen, nachdem ja kein Verbrechen stattgefunden hat – und sie ausfragen, was unweigerlich geschieht, dann treibt sie das noch tiefer in ihre Verzweiflung, und … wer weiß?«
Clay erhob sich. »Es ist so oder so ein Glücksspiel und kann so oder so ausgehen.« Bisher war noch kein Wort von Clays Bruder gefallen. »Aber ich wäre dafür, daß wir einen bestimmten Zeitpunkt fixieren, an dem wir den Alarm auslösen. Wenn nur ein Verbrechen die Polizei aktiv werden läßt, werden wir eben melden, daß wir ein Verbrechen befürchten, Kidnapping oder sonst was. Und den Rest baden wir aus, wenn wir sie wieder sicher hier haben.«
Andrew schaute den jungen Mann an. »Damit bin ich einverstanden.« Er stand auch auf. »Sagen wir am Ende des Renntags, nach dem Oaks?«
»Okay. Und noch etwas: Wollen wir das als gemeinsamen Beschluss deklarieren? Wenn er falsch ist, dann haben wir ihn wenigstens zusammen gefällt.«
Andrew konnte doch noch überrascht werden, wie er merkte. Er streckte die Hand aus, die Clay schüttelte. Was Clay meinte, war ein Notfall, eine Katastrophe, und dann würden sie die Verantwortung teilen – und die Schuld, wenn nötig. »Danke, Clay.«
Unvermittelt stieg in Andrew der Wunsch auf, einen Sohn zu haben. Einen Sohn wie diesen jungen Mann, den er sieben Jahre lang gehasst hatte.
»Ein Pferd ist ein Pferd ist ein Pferd, würde Gertrude Stein abgewandelt sagen. Darum dreht es sich wieder, einen Tag vor dem Derby und nur Stunden vor dem Oaks. Bemerkenswert wäre noch, daß inzwischen nichts Bemerkenswertes passiert ist – weder Feuer noch Unfälle. Hinter den Kulissen mag sich zwar allerhand abspielen, aber ein Blick dahinter ist uns gewöhnlichen Sterblichen nur selten vergönnt. Aber machen Sie sich nichts draus …
Doch nun zum Ereignis des heutigen Tages, dem Oaks für dreijährige Stuten über 1.700 Meter. Betrachten wir uns einmal die illustre Liste der Starterinnen:
Es gibt zwei eindeutige Zwei-zu-eins-Favoritinnen. Die eine ist Miß Mariah aus dem Gestüt Brookfield, Connecticut im Besitz der großen, alten Dame des Rennsports, Mrs. Rachel Stoddard, die vor drei Nächten den Verlust ihres Ancient Mariners zu beklagen hatte. Miß Mariah hat
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