Sekunde der Wahrheit
Hotspur – das Geläuf wird trocken und hart. Dein Pech, aber du schaffst es schon.
Heute war Derbytag. Bernie betrachtete die schlafende Molly. Sie war so bezaubernd trotz des bandagierten Kopfs und des Gipsverbandes, daß ihm ganz flau im Magen wurde. Das rührte nicht von Begierde her, obgleich die verdammt sicher auch mitspielte, sondern von einer atemberaubenden Zärtlichkeit und dem Wunsch, sie zu beschützen und für sie zu sorgen. Er war begierig darauf, aufzustehen und in Gang zu kommen. Heute war der entscheidende Tag. Und doch zögerte er noch. Das war wieder mal typisch für Bernie Golden: immer zwischen zwei widerstreitenden Wünschen hin- und hergerissen zu sein. Aber er hatte ja noch ein paar Minuten Zeit, bis Elijah und Zach und Clay ihn erwarten würden.
»Hallo«, sagte Molly und hatte dabei nur ein Auge offen.
»Top o' the morning, wie die Iren sagen«, flüsterte er. Nun lächelte sie und machte das andere Auge auf. »Eigentlich sollte ich das sagen.«
»Und ich dachte immer, das würden nur Iren in schlechten amerikanischen Filmen über Kobolde sagen.«
Aber sie hörte nicht zu. Eine Wolke hatte sich über ihre feinziselierten Züge gelegt, und ihre schwarzen Augenbrauen bildeten eine gerade Linie. »Ich kann nicht reiten«, klagte sie. »Das wichtigste Morgentraining, und schau mich an …«
»Ich schaue.«
»Du schaust immer, was?«
»Kann nicht genug davon kriegen.«
»Ach, du!« Sie kroch aus dem Schlafsack und blickte sich um, wobei sich ihre Stimmung wieder änderte. »Weißt du, an was mich das hier erinnert? An Zigeuner, in Wohnwagen. Das sind wir auch, nicht wahr? In all den Wohnanhängern und -wagen, Zigeuner, die von einer Bahn zur nächsten ziehen …«
Es stimmte: So war das Rennvölkchen. Und immer war am Morgen – an jedem Morgen, aber besonders an den Tagen von großen Rennen – ein neuer Anfang. Jeder Tag brachte eine neue Hoffnung.
Das Mädchen hatte ihn verändert, denn es war sonst nicht seine Art gewesen, sich solche Gedanken zu machen. »Gestern abend, ehe du eingeschlafen bist, hast du angefangen, mir etwas über die Börse zu sagen – was sie bedeutet.«
»Die Börse meinst du? Ach ja. Hör zu. In der guten alten Zeit, während der Anfänge des Rennreitens in den englischen Moorlandschaften, wurde eine Börse mit Silbermünzen an der Ziellinie aufgehängt, und derjenige Reiter, der als erster dort eintraf, grabschte sich die Börse. Hast du das gewußt? Halt dich nur an mich, und du wirst viel dazulernen.«
»Ich will mich an dich halten, Molly.«
Sie runzelte die Stirn. »Weißt du, daß dies das erste Mal ist, daß ich eine Nacht mit einem Mann verbracht habe.«
»Hast du nicht«, antwortete er.
»Ich weiß. Aber das heißt nicht, daß ich es nicht wieder tun werde.«
»Molly.«
Aber sie fuhr schnell fort: »Mr. McGreevey wird Irish Thrall heute morgen eine halbe Meile rennen lassen, und zwar leicht in siebenundvierzig Sekunden und einem bißchen.«
»Hotspur wird auf sechshundert Meter geschickt, um seine Luftröhren für heute nachmittag durchzupusten, und er wird sie in etwas über vierunddreißig Sekunden schaffen.«
»Machst du die Morgenarbeit?«
»Ich? Am Tag aller Tage? Hör mal, Clay Chalmers hat es ebenso nötig, durchgepustet zu werden wie sein Pferd. Heute braucht er das Training wie andere Leute Kaffee oder Dope brauchen … wie das liebe Leben. Clay würde sich durch nichts davon abbringen lassen.«
Sie lächelte nachsichtig. »Du magst ihn, was?«
»Nein«, sagte Bernie, und seine Stimme klang tief und feierlich, »ich liebe ihn.«
»Mhm. So wie ich Tante Brigid liebe.«
»Ja, Irin, genau so.«
»Aber nicht so, wie du mich liebst.«
»Nein, nicht ganz so.«
»Ich weiß.« Sie wandte den Blick ab und verlagerte das Gewicht auf den freien Ellbogen. »Ich weiß nicht, wie ich es Tante Brigid beibringen soll …«
»Du hast es noch nicht einmal mir gesagt. Hast du dich also entschlossen?«
Sie schaute ihm direkt in die Augen, dunkel und forschend. »Ich habe mich entschlossen.« Und dann mit einem schnellen Lächeln: »Aber nicht wegen dir.«
»Warum dann? Weil du dich nicht von dem Chili und den anderen Annehmlichkeiten von Amerika trennen kannst?«
»Ja, das in der Hauptsache.«
»Ein feister Jude … Molly.«
»Ja?«
»Ich glaube doch noch an Wunder.«
»Und warum nicht? Sie passieren alle Tage. Und wann bekomme ich meinen Guten-Morgen-Kuß?«
»Jetzt.«
Clay war nicht mehr betrunken, nur maßlos zornig.
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