Sekundentod: Kriminalroman (German Edition)
an, ging dann wieder hinaus und schloss ab.
Kerstin hatte keine Zeit mehr, sich weitere Gedanken zu machen. Die nächste Wehe kam mit einer solchen Wucht, dass ihre Sinne schwanden. Sie wartete, versuchte erneut Kraft zu sammeln. Als sie die Schmerzen nicht mehr aushielt, presste sie unter einem einzigen, lauten Schrei. Sie drückte sich von der Pritsche ab, stemmte den Oberkörper ein Stück hoch, presste wieder. Die Wehe ließ nicht nach. Sie ließ sich etwas nach hinten sinken, wartete noch einige Sekunden, bis sie glaubte, wieder ein wenig an Kraft gewonnen zu haben, drückte sich abermals hoch. Sie spürte die Kontraktion ihrer Muskeln, ihr Unterbauch krampfte, sie presste. Erleichtert stellte sie fest, dass die Wehe allmählich wieder nachließ. Noch einmal versuchte sie, das Kind weiter hinab in den Geburtskanal zu schieben. Dann sank sie völlig ausgelaugt zurück und blieb liegen. Sie schloss die Augen, bemühte sich, ihre Atmung zu beruhigen und sich bis zur nächste Wehe auszuruhen.
Das Klappern der Zellentür ließ sie aufhorchen. Er war zurückgekehrt, schloss auf und trat ein. Ungerührt ihrer verzweifelten Situation stellte er das Stativ auf, befestigte die Kamera, regulierte die Einstellungen.
»Du wirst keine Hilfe bekommen«, sagte er unvermittelt. »Wenn du eine gute Mutter bist, wirst du dafür sorgen, dass es deinem Kind gutgeht. Sonst hast du mich getäuscht, und du bist gar keine gute Mutter.« Er drückte die Aufnahmetaste, ging hinaus, schloss wieder ab. Kerstin hatte weder die Energie noch Zeit, etwas zu erwidern. Sie spürte, dass sich die nächste Wehe anbahnte, bündelte ihre Kraft und bereitete sich vor. Sie strich an ihrem Körper hinab, fasste sich zwischen die Beine, versuchte, mit den Fingern zu ertasten, wie weit der Muttermund bereits geöffnet war. Sie hatte keine Erfahrung, doch es schien ihr nicht offen genug, als dass sie durch diese Öffnung das Kind hätte gebären können. Ein Schub der Verzweiflung durchfuhr ihren Körper. Dann krampfte ihr Unterleib bereits erneut. Wie zuvor bemühte sie sich, den richtigen Moment zu finden, ab dem sie pressen musste, um das Kind tiefer in den Geburtskanal zu schieben. Sie drückte ihre Hände flach auf den Bauch, schob das Kind weiter nach unten. Sie fühlte nicht, ob sie dadurch etwas bewirkte. Es war mehr ein Instinkt, sich so zu verhalten. Doch es war auch ihr Instinkt, der sie bisher in dieser Hölle am Leben gelassen hatte. Also machte sie weiter, spürte die nächsten Kontraktionen. Jetzt endlich hatte sie den Eindruck, es ginge weiter voran.
Es dauerte noch zwei schier unerträgliche Stunden, bis Kerstin mit letzter Kraft und in einer schmerzhaften Wehe spürte, wie sie das Kind aus ihrem Unterbauch in die Scheide presste. Sie lehnte sich zurück, strich mit den Händen ihren Bauch hinab, versuchte das Baby weiterzuschieben. Sie stemmte sich hoch, stützte das Gewicht ihres Oberkörpers auf den linken Ellbogen und tastete mit der rechten Hand, ob sie den Kopf des Kindes spüren konnte. Sie lachte auf, atmete stoßartig, als sie die Haare fühlen konnte. Sie ließ sich auf die Pritsche fallen, spreizte ihre Beine noch weiter. Sie strich sich mehrfach mit den Händen über den Bauch, drückte alles immer weiter nach unten. Sie setzte sich auf, rückte auf der Pritsche zurück, bis sie die Wand an ihrem Rücken spürte. Sie lehnte sich nur mit den Schulterblättern an, so dass sie etwa bis zur Mitte der Wirbelsäule auf dem Untergrund der Pritsche lag. Sie spreizte die Beine, stellte sie auf, hob das Becken an und tastete mit der rechten Hand. Sie schob vorsichtig Zeige- und Mittelfinger in ihre Scheide, drückte den Kopf des Kindes ein wenig zur anderen Seite, kam mit Ring- und kleinem Finger nach, bis sie den Schädel fast bis zur Handinnenfläche fassen konnte, machte eine Drehbewegung und konterte mit dem Daumen. Vorsichtig zog sie ein Stück und lachte vor Erleichterung auf, als sie spürte, wie ihr Kind weiter herausglitt. Sie drang noch weiter ein, bis sie den Kopf fest genug bis zum Hals umfangen und den Säugling so weit herausziehen konnte, dass der Kopf vollständig frei war. Sie veränderte ein wenig ihre Position, rutschte weiter herab, bis ihr gesamter Rücken wieder auf der Pritsche lag. Dann presste sie, obwohl sie keine Wehe spürte. Angst stieg in ihr auf, dass noch etwas schiefgehen würde. Hatte sie gerade keine Wehe mehr gehabt? Sie wusste es nicht. Ihr Körper stieß so viel Adrenalin aus, dass sie kaum mehr
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