Sekundentod: Kriminalroman (German Edition)
klar denken konnte. Sie riss sich zusammen, nahm nun das Kind mit beiden Händen an der Rückseite des Kopfes, zog es in einer gleichmäßigen Drehbewegung noch weiter nach vorn, bis die Schultern über den Schamrand flutschten und das Baby das letzte Stück fast von allein herauskam. Kerstin lachte, weinte, atmete stoßartig. Sie beugte sich vor, hob den Säugling an. Kein Schrei kam über dessen Lippen, nur ein kurzes, zufriedenes Glucksen. Die Tränen rannen über ihr Gesicht, als sie das Kind ablegte, die Strickjacke, die sie trug, aufknöpfte, den Säugling hochnahm, an sich drückte und mit in die Jacke einhüllte. Zufrieden gluckste das Kind. Es war ein Junge.
»Hallo, mein Kleiner«, gab sie leise von sich und küsste zärtlich seine Stirn, die noch völlig blutig und verschmiert war. Vorsichtig wischte Kerstin sein Gesicht mit ihrer Jacke ab. Sie erschrak. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihr Peiniger eingetreten war. Sofort drückte sie ihren Sohn fester an sich, ängstlich, was als Nächstes geschehen würde.
»Du bist wirklich eine gute Mutter.« Er klang bewundernd.
»Danke.«
»Was brauchst du für dein Kind?«
Sie lächelte. Offenbar hatte er nicht vor, ihr das Baby wegzunehmen. Erleichtert atmete sie aus. »Eine Decke, in die ich ihn wickeln kann, wäre gut.«
»Worauf soll er schlafen?«, fragte er.
»Er bleibt hier bei mir!« Es klang schärfer, als sie es beabsichtigt hatte.
Er quittierte es mit einem Lächeln, das Anerkennung verriet. »Was soll damit passieren?« Er deutete auf die Nabelschnur, die ihren Leib und den des Kindes verband.
»Wenn du hast, wären Mullbinden gut und eine Schere.«
»Ist gut. Ich werde dir die Sachen bringen.« Er ging zur Tür hinüber. »Und ich habe sogar noch eine Überraschung für dich. Als Geschenk zur Geburt.«
»Ja?« Hoffnung keimte in ihr auf. Würde er sie freilassen? Er hatte es bei Sabine gesagt. Dürfte sie gehen? Sie lächelte ihn hoffnungsvoll an.
Er erwiderte ihren Blick, als freue er sich aufrichtig, sie so glücklich zu sehen. Kurz verschwand er aus ihrem Sichtfeld.
»Ich weiß ja, dass du beschäftigt warst«, hörte sie ihn rufen. Sie war zu keiner Reaktion mehr fähig, als sie sah, was er ihr zum Geschenk gemacht hatte. Er zog den toten Körper Nicoles an den Haaren in ihre Zelle und ließ ihn auf dem Boden aufschlagen. »Deshalb habe ich das hier für dich erledigt.« Er strahlte über das ganze Gesicht. »Und jetzt hole ich die Decke.«
21
Montag, 12 . August, 18 . 10 Uhr
Sie alle machten heute für ihre Verhältnisse zeitig Feierabend. Seit Tagen nun hatten sie auf Hochtouren gearbeitet, waren ziemlich erschöpft, nachdem sie auch am Wochenende keine Pause eingelegt hatten. Die Liste mit den einzelnen Arbeitsstationen der Gutachterin war noch von Harald Kunst gemailt worden. Allerdings warteten sie vergeblich auf die Rückmeldung von Carola Tetzke. Rolf hatte mehrfach versucht, sie telefonisch zu erreichen. So blieb ihnen nichts, als es für diesen Tag bewenden zu lassen und morgen in aller Frühe die Fäden wieder aufzunehmen.
Falkos Überraschung hätte größer nicht sein können, als er zu Hause seine Auffahrt hinauffuhr und Heikes Mini unter dem Carport stehen sah. Einen Augenblick lang kam ein Gefühl der Freude auf, was jedoch sofort von dem Gedanken verdrängt wurde, dass sie lediglich weitere Sachen holen wollte. Als er die Haustür aufschloss, hörte er Geräusche aus der Küche. Mit ruhigen Schritten ging er durch den Flur, legte seine Schlüssel in die Schale und bog schließlich zur Küche ab. Heike saß am Küchentisch und trank einen Tee.
»Guten Abend, Falko. Ich habe nicht so früh mit dir gerechnet.«
»Tut mir leid, wenn ich dich schon wieder enttäuschen muss. Was tust du hier?«
»Wir müssen miteinander sprechen. Denkst du nicht?«
Falko zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, du hättest letztes Mal deinen Standpunkt recht deutlich zum Ausdruck gebracht.«
»Können wir reden?« Sie deutete auf einen der Stühle.
»Sicher.« Er ging zum Kühlschrank, holte eine Flasche Wasser heraus und griff sich ein Glas. »Du auch?«
»Danke, aber ich habe meinen Tee.«
Er ging zum Tisch hinüber. »Was möchtest du besprechen?«
»Wie das bei dir klingt. So sachlich. Findest du denn nicht, dass es eine Menge gibt, worüber wir uns unterhalten sollten? Ich habe seit zwei Tagen an nichts anderes mehr denken können.«
Er erwiderte nichts.
»Du etwa nicht? Lässt dich das alles völlig kalt?« Ihre Stimme
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