Sekundentod: Kriminalroman (German Edition)
umgebracht worden sei, nur weil sie sich tot stellte. Nein. Er war im Grunde in seiner gesamten Entwicklung ein Kind geblieben. Doch er war alles andere als dumm. Und vor allem war da diese andere Seite an ihm, die grausame, die, wenn sie hervorkam, durch niemanden zu kontrollieren war. Noch nicht einmal durch ihn selbst.
In der Nacht wälzte sie sich hin und her. Die Unruhe hatte von ihrem gesamten Körper Besitz ergriffen. Doch da war auch noch etwas anderes, das sie zunächst nicht einzuschätzen wusste. Als dann jedoch der Tag graute und die ersten Lichtstrahlen des Tages durch die Stallgasse drangen, wusste sie, was die Unruhe zu bedeuten hatte. Ihre Wehen setzten ein.
Sie zwang sich, gleichmäßig zu atmen. Das Bild Sabines, die auf dem Zellenboden gelitten hatte und in ihren Armen gestorben war, schlich sich in ihre Gedanken. Sie wollte es nicht, versuchte, es beiseitezuschieben. Doch immer wieder war es da, wühlte sie auf, ließ sie rascher atmen. Bei den ersten Wehen presste sie die Lippen aufeinander. Keinen Laut wollte sie von sich geben. Sie stand auf, ging in der Zelle umher, versuchte sich von dem Schmerz und der Todesangst abzulenken. Sie wollte das Kind nicht hier bekommen. Nicht hier unter diesen erniedrigenden Umständen, wo alle paar Tage eine Frau brutal ermordet wurde. Tränen bahnten sich ihren Weg, doch sie zwang sich, dies nicht zuzulassen. Sie musste jetzt stark sein, kämpfen, wie sie noch nie gekämpft hatte. Kerstin musste daran denken, wie sie, als sie etwa im vierten Monat schwanger war, verschiedene Kliniken besucht hatte, um sich über die Möglichkeiten der Geburt zu informieren. Sie hatte lange mit ihrem Mann darüber diskutiert, um auch nur eine Vorauswahl der für sie optimalen Klinik treffen zu können. Wie grotesk ihr dies jetzt vorkam. Ihre Wehen setzten ein, und sie lief in einer alten Pferdebox auf und ab, um den Schmerz zu unterdrücken und nur keinen Schrei von sich zu geben. Wie sollte sie das nur durchstehen? Sie würde hier sterben. Genau wie Sabine, deren Leben in diesem Sumpf aus Dreck und Erniedrigung geendet hatte. Die Verzweiflung schien ihr fast den Atem zu nehmen. Eine Woche nachdem sie entführt worden war, hätte ihr Kurs zur Geburtsvorbereitung beginnen sollen. Welch ein Hohn. Eine Wehe durchzog ihren Körper. Sie blieb stehen, presste sich mit dem Rücken an die Wand, biss ihre Kiefer so fest sie konnte aufeinander. Sie musste an ihre Mutter denken, daran, was sie Kerstin gesagt hatte, wenn sie als Kind zu aufgeregt war, um einschlafen zu können. Sie atmete ein bei eins und wieder aus bei zwei. Das hatte sie stets beruhigt. Sie versuchte es, doch der Schmerz ließ sie abbrechen. Sie brauchte Hilfe! Was, wenn mit dem Baby etwas nicht stimmte, wenn es falsch lag oder sich die Nabelschnur um den Hals gewickelt hatte? Wie sollte Kerstin wissen, ob sich Schwierigkeiten während der Schwangerschaft ergeben hatten. Sie hatte ja seit Wochen nicht einen Vorsorgetermin mehr machen können. Die Wehe ebbte langsam ab. Für einen Moment war sie erleichtert. Sie ging zur Pritsche hinüber, streichelte über ihren Bauch. »Bitte, bleib noch drin, mein Schatz. Ich weiß nicht, ob ich dich hier draußen schützen kann.« Die Tränen liefen ihr über das Gesicht, sie schluchzte auf. Sie würde es nicht schaffen. »Bitte, bleib drin«, flehte sie, als bereits die nächste Wehe wie eine alles mit sich reißende Welle über sie hereinbrach. Sie krampfte, Schmerzlaute drangen trotz der fest aufeinandergepressten Lippen nach außen. Sie atmete, keuchte, versuchte jeden Laut zu unterdrücken. Die Wehe wurde stärker, schien sie von innen zerreißen zu wollen. »Nein!«, brüllte sie und erschrak, als sie ihre eigene Stimme hörte. Sie ließ sich auf die Pritsche sinken und weinte völlig unkontrolliert los. Ihr ganzer Körper schmerzte, die Verzweiflung nahm überhand. Die Wehe erreichte ihren Höhepunkt, nahm ihr den Atem. Sie riss die Augen weit auf, beugte sich vor. Sie wollte nicht pressen, wehrte sich, das Kind zu gebären. Doch sie spürte, dass es nichts nützte. Sie konnte gar nichts weiter tun.
»Was ist?«, hörte sie Nicole flüstern.
»Scht!«, machte Kerstin. »Nicht reden«, stöhnte sie, dann entfuhr ihr ein weiterer Schmerzensschrei. Das Fruchtwasser ging ab, durchtränkte ihre Pritsche. Die Geburt war nicht mehr aufzuhalten. Sie hätte nicht sagen können, was schlimmer war, der Schmerz, die Angst oder die Erniedrigung, ihr Kind unter diesen Umständen zur Welt
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