Sekundentod: Kriminalroman (German Edition)
Lautstärke nach unten korrigierte. Das Summen der Fliegen wurde leiser, noch leiser, bis er es nur noch wie ein gleichmäßiges Hintergrundgeräusch wahrnehmen konnte. Er zählte sich weiter herunter bis einhundertfünfundachtzig, dann sah er seine Nase vor sich. So, wie er sie kannte und täglich im Spiegel sah. Gleichmäßig zählte er sich weiter herunter, nahm sich Zeit. Vor seinem Auge wurde die Nase jetzt nach und nach farbloser. Schließlich sah er eine graue Flüssigkeit von seiner Nasenwurzel herunterlaufen, die sein Riechorgan mit einer festen Masse überzog, bis die Nase aussah, als wäre sie einbetoniert worden. Er wartete noch einen Augenblick, zählte noch einmal weiter herunter. Dann öffnete er die Augen. Mit einem Gefühl der Sicherheit stellte er fest, dass er den Verwesungsgeruch nicht mehr wahrnahm. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen. Nun konnte er seine Arbeit aufnehmen. Wie in Trance bewegte er sich bis zu der Stelle, an der er die Abdrücke auf dem Boden entdeckt hatte und hockte sich hin. Er war nun voll konzentriert, sah das Stativ mit der Kamera darauf vor sich, als würde es sich in diesem Moment materialisieren. Er stand wieder auf, tat, als würde er hinter die Kamera treten. Falko konnte nur ahnen, in welcher Höhe sich das Objektiv befunden und was es aufgenommen hatte. Er veränderte mehrfach seine Position, stellte sich gerade hin und beugte dann Stück für Stück die Knie. In einer Position verharrte er, meinte zu spüren, dass er richtig lag. Wenn die Kamera so gestanden hatte, nahm sie sowohl den Tisch als auch die beiden an der Wand übereinanderliegenden Leichen auf. Noch einmal schloss er die Augen, wollte sich einfühlen, spüren, was im Täter vorgegangen war. Er erinnerte die Kratzspuren am Boden, die er unterhalb des Tisches entdeckt hatte. Cornelsen ging hinüber, hob den Tisch an. Er war nicht sonderlich schwer und hatte doch die Vertiefungen in den Boden geschrammt. Es musste sich etwas Schweres darauf befunden haben, als er hin und her gezogen worden war. Er versuchte, die Gedanken an den Roman über die gefolterten Pfleger zu vermeiden, doch es gelang ihm nicht. Die Geschichte bot genau die Erklärung, nach der er suchte. Der Täter hatte seine Opfer jeweils bäuchlings auf dem Tisch fixiert und vergewaltigt, während die Kamera ihn filmte.
Falko musste sich abermals herunterzählen, um die Gewaltszene nicht allzu sehr auf sich wirken zu lassen. Er wollte sich konzentrieren, um durch die Bilder, die seine Gedanken in diesem Moment zu überlagern drohten, nichts zu übersehen. Er leuchtete mit der Taschenlampe. Direkt vor seinen Füßen sah er einen Fleck auf dem Boden. Er bückte sich herunter, tunkte den behandschuhten Zeigefinger ein. Falko rieb Finger und Daumen aneinander. Er brauchte einen Moment, um es zuordnen zu können.
»Öl«, raunte er.
»Was hast du gesagt?«
Falko sah auf. Er hatte nicht bemerkt, dass Harald wieder in den Container gekommen war und ihn beobachtete.
»Öl«, wiederholte er und stand wieder auf.
»Wozu?« Harald hustete erneut. »Hast du hier drin alles gesehen? Können wir draußen weiterreden?«
»Ja.« Falko deutete auf die Tür. »Gehen wir und lassen die Spurensicherung ihre Arbeit machen.«
Draußen angekommen, instruierte Falko die Leute von der Spurensicherung, unbedingt auch den Boden Stück für Stück zu fotografieren. Dann ging er ein Stück von dem Container weg und atmete mehrmals tief durch. Das Bild der grau betonierten Nase verschwand, sein Geruchssinn kehrte in sein Bewusstsein zurück.
»Also. Weshalb das Öl?« Kunst war an seine Seite getreten.
»Als Gleitmittel.«
»Du meinst …?«
»Ganz recht. Ich glaube, er hat die Männer da drin vergewaltigt und das Öl als Gleitmittel benutzt.«
»Das ist ungewöhnlich für einen Vergewaltiger.« Falko kniff die Augen zusammen. »Das Öl könnte eine Bedeutung für ihn haben.«
»Ach ja? Welche?«
»Ich weiß es nicht. Noch nicht.«
Auf dem Rückweg, es war gegen halb zwei, fuhren sie noch bei dem Supermarkt vorbei, vor dem Kerstin Sommer entführt wurde. Sie befragten die Verkäuferinnen und auch den Filialleiter, kamen jedoch nicht entscheidend weiter.
Als Kerstin Sommer den Supermarkt verlassen hatte, verlor sich ihre Spur. Ihr Auto war damals abgeschleppt und zur weiteren Spurenverwertung zu einem Fahrzeughof der Polizei gebracht worden. Wie Harald Kunst ihm mitteilte, hatten sich lediglich ihre Einkäufe im Kofferraum befunden, ansonsten
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