Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
den netten Leutnant, der diese Entwicklung leider erst bemerkt, als es schon viel zu spät ist. Fräulein Kekesfalva baut einen enormen psychischen Druck auf, dem der weichliche Offizier nicht gewachsen ist. Aus Feigheit, Schwäche und einer ungünstigen Verstrickung heraus macht er der unheilbar Kranken Hoffnung auf eine baldige Genesung. Der Arzt Dr. Condor behandelt die Kranke. Er ist in dem Drama das Gegenmodell zum oberflächlichen Hofmiller, hat er doch eine Blinde geheiratet, die er nicht zu heilen vermochte. Er mahnt den jungen Leutnant in einem vertraulichen Gespräch eindringlich, auf Distanz zu seinen »mitleidigen« Bauchgefühlen zu gehen: »Aber verhängnisvollerweise besitzt der Organismus, der Körper wie die Seele, eine unheimliche Anpassungskraft; so wie die Nerven immer mehr Morphium, benötigt das Gefühl immer mehr Mitleid, und schließlich mehr, als man geben kann. Einmal kommt unvermeidlich der Augenblick, da und dort, wo man ›Nein‹ sagen muss und sich nicht kümmern darf, ob der andere einen für dieses letzte Weigern mehr hasst, als wenn man ihm nie geholfen hätte. Ja, lieber Herr Leutnant, man muss sein Mitleid richtig im Zaum halten, sonst richtet es schlimmeren Schaden an als alle Gleichgültigkeit – das wissen wir Ärzte und wissen die Richter und die Gerichtsvollzieher und die Pfandleiher; wenn die alle immer nur ihrem Mitleid nachgeben wollten, stünde unsere Welt still – gefährliche Sache das Mitleid, gefährliche Sache! Sie sehen selbst, was Ihre Schwäche angerichtet hat.«
Dr. Condor weiß, dass nicht alles, was nach hochherzigem und selbstlosem Mitgefühl riecht, auch selbstlos ist. Und dass Bauchgefühle besonders dann täuschen können, wenn sie sich laut und melodramatisch geben. Aber es hilft alles nichts, der wehleidige Leutnant ist zu keinem schmerzhaften Bruch bereit, sondern verheddert sich mehr und mehr in eine aussichtslose Situation, obwohl er mit der Vernunft genau sieht, wohin sein Schiff da steuert. Ein halbherziger Versuch, sich herauszuwinden, wird von der jungen, leidenschaftlichen Frau souverän zunichtegemacht, indem sie ihm erwidert: »Sie haben jetzt, glaube ich, wirklich die Wahrheit gesagt. Sehr, sehr höflich haben Sie sich ausgedrückt, und sehr gewunden. Aber ich hab Sie doch genau verstanden. Ganz genau verstanden … Sie kommen, sagen Sie, weil ich so ›allein‹ bin – das heißt auf gut Deutsch: weil ich angenagelt bin an diesen verfluchten Liegestuhl. Nur deshalb also trotten Sie täglich heraus, nur als barmherziger Samariter kommen Sie zu dem ›armen, kranken Kind‹ – so nennt ihr mich wohl alle, wenn ich nicht dabei bin, ich weiß schon, ich weiß. Nur aus Mitleid kommen Sie, ja, ja, ich glaub’s Ihnen schon – warum wollen Sie’s jetzt wieder ableugnen? Sie sind doch ein sogenannter ›guter‹ Mensch und lassen sich gern von meinem Vater so nennen. Solche ›gute Menschen‹ haben Mitleid mit jedem geprügelten Hund und jeder räudigen Katze – warum nicht auch mit einem Krüppel?«
In seiner Willenlosigkeit, Wehleidigkeit und Schwäche kann er keine Entscheidung treffen, mit der er Edith kränken würde. So bleibt er in ihren Netzen, die sich immer mehr zuziehen. Zunehmend wird sie bitter und sarkastisch, treibt den kraftlosen Leutnant rhetorisch vor sich her, macht ihm ihr Schicksal zum Vorwurf. Nach einem heftigen Ausbruch Ediths kommt es zu einer fatalen Versöhnung. Als sich der naive und schwache Leutnant zu ihr herunterbeugt, um ihr freundschaftlich die Stirn zu küssen, reißt die Kranke mit verzweifelter Heftigkeit den überraschten und überforderten Hofmiller an sich und vergewaltigt ihn zu einem leidenschaftlichen Lippenkuss. »Nie in meinem Leben hab ich mehr einen derart wilden, einen so verzweifelten, einen so durstigen Kuss empfangen wie von diesem verkrüppelten Kind.« Auch jetzt versucht der Kraftlose noch zu kalmieren, schlittert aber in eine Verlobung und verspricht dabei die Verehelichung, falls sie gesundet. Aus Angst vor Spott und Verachtung steht er jedoch in der Öffentlichkeit nicht zu ihrer Verbindung. Als Edith erfährt, dass er die Verlobung vor anderen leugnet, nimmt sie sich das Leben. Von Schuldgefühlen überwältigt, stürzt sich daraufhin Hofmiller in einer todesmutigen Flucht in die Kämpfe des beginnenden Ersten Weltkriegs.
Das organische Modell: Kopf–Herz–Bauch
Der tragische Fall des k.u.k. Leutnants Anton Hofmiller zeigt anschaulich, dass das ungebremste, unreflektierte
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