Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
Heilige ist ihm unerklärlich.
FALL 33: Der 54-jährige Unternehmer Otmar R. kommt wegen eines Sexualproblems. Er und seine Frau seien Mitglieder in einer freikirchlichen Gemeinde. Dort seien sie recht zufrieden, sie hätten andernorts schon viel schlechtere Erfahrungen gemacht. Er gebe auch seinen Zehent für die Gemeinde, spende also 10 Prozent seines Gewinns nach biblischem Vorbild für die Bedürfnisse des Pastors und seines Teams. Er lese viel und gerne in den entsprechenden erbaulichen Schriften und sei, so sagt er, mit deren Inhalten ganz einverstanden. Nur ein Punkt mache ihn dort stutzig, und da wolle er eine medizinische Auskunft: Die Sexualmoral der Freikirche sei ihm ein Dorn im Auge. Die komme ihm ein wenig verstaubt und leibfeindlich vor, da fühle er sich unverstanden mit seinen Bedürfnissen. Und die Wissenschaft sei da heute natürlich schon viel weiter als damals, als die Bibel geschrieben wurde … Was denn seine diesbezüglichen Bedürfnisse seien, fragt der Psychiater freundlich nach. Ja, also immer nur mit einer Frau, der Arzt müsse doch verstehen, seine Frau sei auch nicht mehr die Jüngste, und früher sei das Sexualleben viel inspirierter gewesen. Er habe überhaupt das Gefühl, dass Religion der weiblichen Libido nicht so guttue. Er habe eben in sich einen immensen Sexualtrieb, den seine Frau alleine nicht stillen könne oder wolle. Eine Zeitlang habe er neben seiner Frau noch eine Außenbeziehung mit einer zwanzig Jahre Jüngeren gehabt, aber da habe ihn ein schlechtes Gewissen geplagt, das ihm in der Gemeinde eingeredet worden sei. »Wissen Sie, ich brauch das einfach!«
ANALYSE: Der richtige Umgang mit dem Bauch (d.h. mit Freuds Es) ist hier das Thema: Herr R. phantasiert sich sein Glück in eine fiktive Sexualkonstellation, der seine Frau niemals zustimmen würde. Sein Bauch sucht vorgeschoben medizinisch-wissenschaftliche Kopfargumente, um ans Triebziel zu kommen. Das nennt man in psychoanalytischer Sprache Rationalisierung. Der Feind des Triebziels, in dem Fall die Freikirche, wird als unwissenschaftlich entwertet. Letztlich kommt hier eine Herzensschwäche zum Ausdruck, die die Ehefrau und ihre Bedürfnisse nicht achtet. »Ich brauch das einfach«, ist der Bauchsatz schlechthin, der falsch ist. Der Hinweis auf den »enormen Sexualtrieb« ist eine biologistische Ausrede ohne wissenschaftliches Fundament. Der Mensch ist mehr als nur sein Bauch.
Die Neuroanatomie von Kopf, Bauch und Herz
Die Begriffe »Kopf, Bauch und Herz« sind hier natürlich nicht anatomisch, sondern als Metapher zu verstehen. Ähnlich dem »Inneren Team« des Psychologen Friedemann Schulz von Thun weisen sie auf die innerpsychische Gespaltenheit des Menschen hin. Alle drei basieren aber auf kortikalen Funktionen und haben somit ihren funktionalen Sitz im menschlichen Gehirn. Der Kopf – die Vernunft also – umfasst im Kontext der Neurowissenschaften einerseits die fluide Intelligenz und andererseits die exekutiven Funktionen. Beide sind im Frontalhirn (Stirnlappen) lokalisiert. Die fluide Intelligenz ist die Fähigkeit zum logischen Denken und Problemlösen. Die dafür zuständigen neuronalen Strukturen befinden sich im dorsolateralen präfrontalen Kortex, das ist ein Teil des Stirnlappens direkt hinter dem Stirnknochen. Personen mit Verletzungen in diesem Bereich zeigen verstärkt unflexible und rigide Verhaltensmuster, selbst wenn sich die Situation stark geändert hat. Auch Patienten, die an einer Demenz erkranken, verändern oft ihr Wesen in diese Richtung. Unter Umständen kommt es dabei zu Stereotypien, das heißt zu sinnlosen, sich immer wiederholenden Handlungen.
Der zweite Teil der Vernunft, die exekutiven Funktionen, betrifft das Abschätzen von Handlungsfolgen, das Aufstellen von Handlungszielen und die Kontrolle störender Verhaltensimpulse des Bauches. Die entsprechenden Strukturen sind vor allem im orbitofrontalen Kortex lokalisiert, das ist ein Teil des Stirnlappens über den Augen. Wenn dieser Hirnteil nicht mehr funktioniert, zeigen die betroffenen Patienten vermehrt »unvernünftiges« Verhalten, gehen etwa wider besseres Wissen große Risiken ein. 130 Stundenkilometer auf dem Wiener Gürtel zu fahren, wie es einer meiner manischen Patienten kurz vor seiner Einlieferung in die Psychiatrie tat, ist ausgesprochen unvernünftig. Man nennt das in der Fachsprache »frontale Enthemmung«. Hier stimmt der Satz: »Wer alles sagt, was er sich denkt, ist nicht ganz dicht.«
Demenzpatienten
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