Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
die Situation. Nur nicht auf sich selbst.
Die Entscheidung kann der Psychiater ihm nicht abnehmen. Seine Frau will Klarheit und hofft, dass er zurückkommt. Die Geliebte terrorisiert ihn mit SMS, E-Mails und Anrufen und beginnt ihm Vorwürfe zu machen, denn schließlich habe sie sich seinetwegen scheiden lassen. In der Therapiestunde ist er immer wieder ganz klar und sieht, dass die Beziehung zu dieser Frau sein Verderben ist und dass das keine Zukunft haben kann. »Aber ich liebe sie so!«
Der Therapeut erstellt mit dem Patienten als Entscheidungshilfen »pro & contra«-Listen für die beiden Frauen: Im Kopf spricht alles für seine Ehefrau – aber sein Bauch schreit nach der Geliebten. Nie hört der Psychiater von ihm, dass er selbst irgendetwas falsch gemacht haben könnte. Weder in dieser Beziehung noch sonst irgendwann. Alles sei schicksalhaft passiert, und jetzt verstehe ihn keiner. Der Psychiater versucht deswegen ein Empathietraining: Wie es jetzt wohl seiner Frau gehe, die er mit seiner Entscheidung so lange hinhalte? Und wie der Geliebten? Da schreit er den Psychiater an: »Und wer, bitte schön, denkt hier an mich?«
ANALYSE: Der erbärmliche Zustand des Dr. Gotthard S. macht klar, wie stark der Bauch werden kann und dass es klug ist, rechtzeitig wahrzunehmen, wohin die von ihm vorgeschlagene Reise führt – um, wenn nötig, großräumig auszuweichen. Der Fall zeigt, dass Herz und Kopf geheime Mitwisser und Komplizen des Bauches sind, die aus Langeweile doch einmal mit dem Feuer spielen wollen – bis es lichterloh brennt und der Patient die Geister, die er rief, nicht mehr loswerden kann. Beeindruckend ist das Ausmaß an Unfreiheit und Manövrierunfähigkeit, in die der arme Mann geschlittert ist.
ZUSAMMENFASSUNG: Das Herz ist die Entscheidungsmitte des Menschen und der Sitz der Freiheit. Weder im Bauch noch im Kopf ist der Mensch frei. Der Bauch funktioniert natürlicherweise nach dem Prinzip Lustmaximierung und Unlustvermeidung, und das ist gut so. Der Kopf wiederum zielt auf Nützlichkeit ab, bietet den intellektuellen Überbau des Gewollten und kann nur insofern klar sehen, als es das Herz zulässt. Er kann – je nach Herzenssteuerung – die Wirklichkeit wahrhaft oder geschönt wiedergeben. Reine Bauchgefühle haben keine Orakelfunktion, auch wenn sie sich so anfühlen. Viele persönliche und zwischenmenschliche Katastrophen haben die Verwechslung von Herz und Bauch als Ursache – bei denen der Kopf den Selbstbetrug konstruiert.
8. Kapitel
Das Schuldbekenntnis
Rodion Raskolnikow auf der Couch
I mmer wieder kommen Patienten in die Therapiestunden und sagen gleich nach der Begrüßung, kaum dass sie die Couch auch nur berühren: »Also, Herr Doktor, zuerst muss ich etwas beichten: Ich habe letzte Woche …« Meist »beichten« sie dann gebrochene Vorsätze, die sie in der vergangenen Therapiestunde gefasst hatten: der Student, der eigentlich in der Früh aufstehen wollte, die Übergewichtige oder der Kaufsüchtige, die rückfällig wurden. Ja, ein überzeugt atheistischer Pornosüchtiger »beichtete« mir kürzlich sogar, dass er seit der letzten Therapiestunde »gesündigt« (sic!) habe. Auf meinen fragenden Blick antwortete er mit einem charmanten Schmunzeln, dass eben auch Atheisten sündigen könnten. Jedenfalls: Wenn »es« dann draußen ist, geht es ihnen allen besser. Die Stunde kann für sie danach zwanglos und ohne Krampf beginnen. Das Schlimmste ist nämlich bereits ausgespuckt, das schlechte Gewissen erleichtert. Freilich muss man in der Therapiesituation achtgeben, dass der Therapeut nicht in die Rolle der moralischen Instanz gedrängt wird. Aber um diese Gefahr wissen die Patienten zumeist auch. Trotzdem ist ihnen die sofortige Klarstellung ihrer »Verfehlungen« ein Anliegen, vielleicht für ihre innere Buchhaltung im Therapieprozess. Damit haben sie auch recht, denn wenn ein Patient versuchen würde, genau seinen schmerzhaften Punkt zu umgehen, wäre die Therapie sicherlich weniger effektiv. Bei Alkoholikern etwa erlebt man immer wieder, dass ein Rückfall phantasievoll kaschiert wird – und eben nicht »gebeichtet« –, weil er im Bewusstsein umgedeutet wird. Dann ist Hilfe schwieriger. Das Formulieren des eigenen Scheiterns verhindert die wehleidige Verdrängung. So steht die Selbstanklage gegenüber dem Therapeuten oft stellvertretend für den mutigen Prozess der Selbsterkenntnis.
Beichten ist ein normales menschliches Bedürfnis. Jeder psychisch gesunde Mensch
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