Selbs Betrug
Niebuhrstraße 46 und 48. Ich las noch einmal das Klingelschild Niebuhrstraße 46 a, aber es gab mir keine andere Auskunft. Dann war ich drauf und dran zu gehen. Aber ich zögerte, vielleicht weil meine Augen es schon aus den Augenwinkeln gesehen und an das Unterbewußtsein gemeldet hatten. Das kleine Schildchen »Helmut Lehmann« in der Tür des Ladens. Helmut Lehmann – nichts weiter. Die Tür war verschlossen, der Laden bot eine Theke, zwei Stühle und einen leeren Ständer für Strümpfe.
Auf der Theke standen ein Telephon und ein Anrufbeantworter.
18
Halbgott in Grau
Ich klopfte. Aber niemand stieg eine verborgene Falltür herauf oder trat aus einer versteckten Tapetentür. Der Laden blieb leer.
Dann klingelte ich im ersten Stock und traf den Eigentümer des Hauses. Die alte Witwe, die das Kurzwarengeschäft geführt hatte, war vor einem guten Jahr gestorben, ihr Enkel zahlte seitdem die Miete. »Wann kann ich den jungen Herrn Lehmann antreffen?« Der Eigentümer musterte mich aus Schweinsäuglein und redete mit wehleidigem rheinischem Tremolo. »Das weiß ich nicht. Sie wollen im Laden eine Galerie machen, hat er mir gesagt, er und seine Freunde, und da ist mal der da und mal der, und dann wieder höre und sehe ich tagelang niemand.« Als ich vorsichtig in Erfahrung zu bringen versuchte, ob er der Identität des Enkels Lehmann gewiß sei, schlug die Wehleidigkeit in Empörung um. »Wer sind Sie eigentlich? Was wollen Sie überhaupt?« Es klang nach schlechtem Gewissen, als habe er sich eigene Zweifel durch eine hohe Miete abkaufen lassen.
Ich ging zurück zum Bahnhof. Der Zug fuhr erst um siebzehn Uhr elf, und ich setzte mich ins Café gegenüber. Über der Schokolade ging ich durch, was ich wußte und was ich nicht wußte.
Ich wußte, daß Lea Leo war. Ich konnte mir auch denken, warum Leo ihren Namen ausgerechnet zu Lea variiert hatte; ich wähle meine falschen Namen auch stets nahe bei meinem richtigen. Bei einem meiner frühen Aufträge hatte ich mich in eine Bande, die mit geschmuggelten amerikanischen Zigaretten und gestohlenen deutschen Antiquitäten handelte, als Hendrik Willamowitz eingeschleust. Irgend etwas hatte mir an dem Namen gefallen. Aber zweimal reagierte ich nicht schnell genug, als ich mit Willamowitz angeredet wurde, und war damit für den Boss erledigt. Seitdem bin ich Gerhard Seil oder Selk oder Selt oder Selln, wenn ich einen falschen Namen brauche, und so steht’s auch auf meinen falschen Visitenkarten.
Aber warum brauchte Leo einen falschen Namen? Schon in der Anstalt war sie unter falschem Namen aufgetaucht und geführt worden – die Sachbearbeiterin hatte mit dem Namen Leonore Salger nichts anfangen können, und auch Wendt hatte gesagt, er habe den richtigen Namen erst von mir erfahren. Patientin im Psychiatrischen Landeskrankenhaus und amerikanisches Au-pair-Mädchen im hinteren Odenwald – gut ausgedacht, wenn man untertauchen will oder muß. Warum wollte oder mußte Leo untertauchen? Daß es für Leo nicht um eine therapeutische Abschirmung gegen den bedrohlichen Vater ging, sondern um ein Untertauchen vor dem falschen Salger, falschen oder richtigen Lehmann, dessen Hintermann oder Auftraggeber, lag auf der Hand. Wußte Wendt mehr darüber? Immerhin sprach alles dafür, daß er Leo die Au-pair-Stelle in Amorbach vermittelt hatte. Sogar Eberlein ging davon aus, daß Wendt mit dem Verschwinden von Leo zu tun hatte. Vielleicht hatte er sie schon im Psychiatrischen Landeskrankenhaus untergebracht.
Ich bestellte noch eine Schokolade und einen Mohrenkopf dazu. Wer steckte hinter Salger? Er konnte am Telephon glaubwürdig einen Bonner Ministerialdirigenten darstellen. Er wußte, daß Leo am Heidelberger Dolmetscherinstitut Französisch und Englisch studiert hatte. Er hatte ein Bild von Leo, das sie hatte machen lassen. Hatte er es von ihr?
Über dem Mohrenkopf malte ich mir eine Liebesgeschichte aus. Leo trägt eine verknautschte gelbe Bluse, schwänzt die Schule und sitzt am Rhein. Ein junger Attaché vom nahen Auswärtigen Amt kommt des Wegs. »Mein schönes Fräulein, darf ich …« Auf einen ersten Spaziergang folgen weitere, und die Bank am Rhein bleibt nicht die einzige, auf der sie miteinander schmusen. Dann muß der Attaché nach Abu Dhabi, und sie bleibt zurück, und während er nur Schleier sieht, deren jeder ihn an Leo denken läßt, sieht Leo manchen schmucken Burschen. Rückkehr, Eifersucht, Bedrängen und Nachstellen, sie wechselt von Bonn nach Heidelberg, er
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