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Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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ausschließen.
    »Viertel nach sechs. Sie haben …«
    »Sie glauben doch nicht, daß Sie mir so kommen können? Sie sind nicht seit sechs hier«, sie rülpste noch mal, »und Sie werden auch nicht seit sechs berechnen. Machen Sie sich an die Arbeit, der Apparat steht gleich links.« Ihr Arm zeigte zur Terrasse, griff auf dem Rückweg die Flasche und schenkte ein.
    Ich blieb sitzen.
    »Worauf warten Sie?« Sie trank in großen Schlucken.
    »Ihr Fernsehapparat ist nicht mehr zu reparieren. Sehen Sie, ich habe Ihnen einen neuen mitgebracht.«
    »Aber meiner ist doch …« Ihre Stimme wurde weinerlich.
    »Also gut, ich nehme ihn mit in die Werkstatt. Den anderen lasse ich Ihnen trotzdem hier.«
    »Ich will das Ding nicht.« Sie zeigte auf den Fernsehapparat für DM 129, –, als habe er den Aussatz.
    »Dann schenken Sie ihn Ihrer Tochter.«
    Das Erstaunen machte ihren Blick für einen kurzen Moment wach. Sie bat mich mit normaler Stimme um die Flasche aus dem Eisschrank. Dann seufzte sie und schloß die Augen. »Meine Tochter …«
    Ich ging in die Küche und holte den Gin. Als ich zurück auf die Terrasse kam, schlief sie wieder. Ich machte eine Runde durchs Haus und fand im ersten Stock ein Zimmer, das einmal Leos gewesen sein dürfte. Am Korkbrett über dem Schreibtisch hingen mehrere Photos mit ihr. Aber Schrank, Kommode, Schreibtischschublade und Bücherregal verrieten so gut wie nichts über die ehemalige Bewohnerin. Sie hatte mit Steifftieren gespielt, Betty-Barclay-Moden getragen und Hermann Hesse gelesen. Wenn die mit L. S. signierten Zeichnungen an der Wand von ihr stammten, hatte sie nicht schlecht gezeichnet. Sie hatte für einen italienischen Schlagersänger geschwärmt, der vom Poster an der Wand lächelte und dessen Platten im Regal standen. Ratlos setzte ich mich an den Schreibtisch und studierte die Photos genauer. Mit einem Querbalken in Kniehöhe war der Schreibtisch gebaut, als sei für junge Mädchen jede Minute am Schreibtisch eine Minute zu viel. Als gelte es zu verhindern, daß sie auch nur Lesen und Schreiben und die vier Grundrechenarten lernen. Ich kann das nicht billigen; so ist das Problem der Frauenemanzipation nicht zu lösen.
    Leos Photoalbum, einen dicken Band in Leinen, der Leos Leben von der Wiege über den ersten Schultag, Tanzstundenabschlußball, Schulausflüge, Abiturfeier bis ins Studium hinein dokumentierte, nahm ich mit. Warum legen Mädchen so gerne Alben an? Sie zeigen sie auch gerne, und im Zeigen liegt eine tiefe Bedeutung, ein matriarchalischer Zauber. Als ich jung war, habe ich die Einladung »Willst du meine Photos sehen?« stets als Signal zur Flucht genommen. Bei meiner Frau Klärchen habe ich das Signal überhört oder gemeint, ich dürfe nicht länger flüchten, sondern müsse standhalten.
    Ohne Ziel und Plan stieg ich die geschwungene Treppe hinunter, schlenderte durch den großen Salon und blieb vor der Regalwand voller Videofilme stehen. Auf der Terrasse schnarchte Frau Salger. Kurz war ich versucht, The Wild Bunch zu klauen, einen Film von Peckinpah, den ich liebe und der nirgends auf Videokassette zu bekommen ist. Es war halb sieben und fing an zu regnen.
    Ich trat auf die Terrasse, kurbelte die Markise zurück und setzte mich noch mal Frau Salger gegenüber. Der Regen war sanft, sammelte sich in ihren Augenkuhlen und rann über ihre Wangen wie Tränen. Mit fahrigen Bewegungen der rechten Hand versuchte sie, die Tropfen zu verscheuchen. Als das nicht ging, schlug sie die Augen auf. »Was ist los?« Ihr Blick hielt nichts, taumelte und flüchtete hinter die geschlossenen Lider. »Warum bin ich naß? Hier regnet es nicht.«
    »Frau Salger, wann haben Sie Ihre Tochter zuletzt gesehen?«
    »Meine Tochter?« Ihre Stimme wurde wieder weinerlich. »Ich habe keine Tochter mehr.«
    »Seit wann haben Sie keine Tochter mehr?«
    »Das müssen Sie ihren Vater fragen.«
    »Wo finde ich Ihren Mann?«
    Sie schaute mich aus engen Äuglein listig an. »Sie möchten mich reinlegen? Ich habe auch keinen Mann mehr.«
    Ich machte einen neuen Anlauf. »Wollen Sie Ihre Tochter wiederhaben?« Als sie nicht antwortete, wurde ich großzügiger. »Wollen Sie Ihre Tochter und Ihren Mann wiederhaben?«
    Sie sah mich an, und wieder war der Blick für einen kurzen Moment wach und klar, ehe er durch mich hindurchging und starr wurde. »Mein Mann ist tot.«
    »Aber Ihre Tochter lebt, Frau Salger, und braucht Hilfe. Interessiert Sie das nicht?«
    »Meine Tochter braucht schon lange keine Hilfe

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