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Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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fand ich’s nicht. Aber Menschen erkennen, die nicht erkannt werden wollen, gehört bei mir zum Geschäft.«
    »Bringen Sie mich von hier weg?«
    Ich verstand nicht, worauf sie hinauswollte.
    »Ich meine, ob Sie mich wohin bringen können, wo nicht diese Bilder … Die kommen jetzt doch wohl in jedes Postamt und in jedes Polizeirevier, wie damals bei Baader und Meinhof, und ins Fernsehen – auch ins Fernsehen?«
    »Gestern abend.«
    »Fällt Ihnen was ein? Dann erzähle ich Ihnen auch, was Sie wissen wollen.«
    Ich brauchte eine Weile. Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, Begünstigung, Strafvereitelung – mir ging durch den Kopf, was mir passieren konnte. Könnte ich in meinem Alter mangelnde Verhandlungsfähigkeit geltend machen, oder war das nur in Naziprozessen zulässig? Würden sie meinen Kadett als Verbrechenswerkzeug einziehen? Die moralische Frage, ob ich ein Versprechen, das ich Leo jetzt gab, auch dann noch halten würde, wenn sie die furchtbarsten Furchtbarkeiten begangen haben sollte, verschob ich auf später.
    Ich stand auf. »Na gut. Ich bringe Sie nach Frankreich, und bis wir die Grenze erreichen, erzählen Sie mir, was Sie wissen.«
    Sie blieb sitzen. »Und wenn wir an der Grenze sind, sagt der Beamte danke schön und …«
    Sie hatte recht. Auch im Europa der offenen Grenzen würde die Polizei bei einer Großfahndung an den Grenzübergängen besonders aufpassen. »Ich bringe Sie über die grüne Grenze.«

32
Bananen in den Auspuff
    Im Fernsehen war um Verständnis für Straßensperren und Kontrollstellen gebeten worden. Also nahm ich die kleinen Straßen mit den Traktoren, Landmaschinen und Heuwagen, die bei Polizisten ebenso gefürchtet sind wie bei allen anderen. Wir fuhren durch den kleinen Odenwald und den Kraichgau, bei Leopoldshafen über den Rhein und bei Klingenmünster in den Pfälzer Wald. Um zwei Uhr waren wir in Nothweiler.
    »Eigentlich gibt es gar nicht viel zu erzählen«, hatte Leo hinter Ernsttal angefangen, um sogleich wieder aufzuhören. Bis Neckarbischofsheim brütete sie vor sich hin und drehte und rauchte eine Zigarette nach der anderen. »Ich verstehe das nicht. Rolf hat nicht wirklich dazugehört und mitgemacht. Es gibt keinen Grund, ihn umzubringen, für niemanden. Wie ist er ermordet worden?«
    »Erzählen Sie mir einfach von Anfang an.«
    »Dann fang ich mit Helmut Lemke an. Er nennt sich zwar nicht mehr so, aber was soll’s. Mit Ihrem Bild finden Sie den Namen eh raus. Er war wirklich ein großer Bruder. Als Vater ihn zum erstenmal nach Hause brachte, war ich noch nicht in der Schule. Er war sich nicht zu alt, mit mir im Garten Fangen und Verstecken zu spielen, und als ich größer wurde, brachte er mir Tennis bei. Er muß sich die kleine Schwester ebenso gewünscht haben wie ich mir den großen Bruder.«
    »Woher kannte Ihr Vater ihn?«
    »Helmut war Student und in den Ferien für ein Praktikum im Ministerium. Irgendwie ist er Vater aufgefallen. 1967 hat er dann von Bonn nach Heidelberg gewechselt. Das hat den Kontakt gelockert, aber immer wieder war er in Bonn, und dann besuchte er uns auch und unternahm was mit mir. Als Vater im Gefängnis saß und niemand mit uns zu tun haben wollte, kam er, als sei das die selbstverständlichste Sache von der Welt. Bis er vor sechs Jahren wie vom Erdboden verschluckt war.«
    »Wann tauchte er wieder auf?«
    »Im letzten Sommer. Comme ça.« Leo schnalzte mit den Fingern. Eines Tages hatte er bei ihr vor der Tür gestanden und sie begrüßt, als habe man sich gestern gesehen. In den nächsten Wochen sahen sie sich fast täglich. »Es war für uns … Na ja, einerseits kannten wir uns seit ewigen Zeiten und waren einander vertraut, und andererseits erlebten wir uns ganz neu.« Hieß das, daß sie ein Verhältnis hatten? Jedenfalls machten sie viel zusammen, Tennis, Wandern, Theater, Kochen. Eines Tages erzählte er von seinen sechs Jahren im Gefängnis. Er war wegen eines Anschlags auf das Kreiswehrersatzamt in Heidelberg verurteilt worden.
    »Zu sechs Jahren?« Ich erinnerte mich an keinen solchen Anschlag, und spektakuläre Explosionen im Raum Mannheim-Heidelberg bleiben mir gemeinhin in Erinnerung.
    »Es hat einen Nachtwächter erwischt. Er wurde schwer verletzt. Aber Helmut hatte mit dem ganzen Anschlag nichts zu tun. Er war politisch engagiert, hat beim KBW mitgemacht, beim Kommunistischen Bund Westdeutschland, hat die Polizei und die Gerichte immer wieder provoziert, und da haben sie ihm was angehängt und ihn

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