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Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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Kaiser-Wilhelm-Stein
    Schon auf der Fahrt durch das helle, sonnige Land hatte Leos Bericht über Nacht und Nebel, geschwärzte Gesichter, zerschnittene Zäune, Bomben und Schüsse mich seltsam unwirklich berührt. In Nothweiler parkte ich das Auto vor der Kirche, und wir stiegen zur Wegeinburg auf. Der Wald prunkte in frischem Grün, die Vögel sangen, und die Luft schmeckte nach dem Regen der letzten Tage würzig. Explosionen bei den Amerikanern? Was für Amerikaner? Was für Explosionen? Aber Leo ging die Nacht nicht so schnell aus dem Sinn.
    »Der fünfte Mann war mir nicht geheuer. Der schwänzelte so rum, mal war er voraus, mal blieb er zurück, dann tauchte er von der Seite auf. Lauter Gerät hatte er dabei, ich weiß nicht, was und warum und wofür. Den Sprengstoff hatten ja wir mitgebracht.«
    Der Weg zur Wegeinburg steigt steil an. Leo hatte mich Tasche und Mantel nicht für sie tragen lassen, und ich war froh. Immer wieder war sie mir viele Schritte voraus und wartete. Zuerst lief sie, als hätte man sie aufgezogen. Allmählich wurde der Schritt freier und leichter, sie nahm die Tasche von der Schulter in die Hand, schwang die Arme, warf den Kopf in den Nacken, daß die Haare flogen, und wenn sie auf mich wartete, tänzelte sie rückwärts vor mir her. Noch einmal kam sie auf die Aktion Bonfire zu sprechen. Ein verfaulender, überwachsener Holzstoß erinnerte sie an Bauten der Amerikaner, auf die sie damals gestoßen war. »Wie Garagen, aber um einiges größer, mit schrägen Seiten und Erde und Gras drauf. Dann gab’s noch ganz lange Dinger, nicht ganz so hoch und breit wie die Garagen, aber auch mit Gras drauf. Was das wohl alles war?« Doch die Frage beschäftigte sie nicht wirklich. Als ich sie eingeholt hatte und über grasbewachsene Großgaragen mutmaßen wollte, legte sie mir die Hand auf den Arm. »Pssst.« Auf dem Weg saß ein Hase und sah uns an.
    Am Kaiser-Wilhelm-Stein machten wir Rast. Beim Tanken hatte ich ein Kilo Granny Smith und Vollmilchschokolade mit ganzen Nüssen gekauft. »Was wollen Sie drüben machen?« Hinter dem Stein beginnt Frankreich.
    »Urlaub, solange das Geld reicht. Die letzten Wochen mit den drei Kindern waren ganz schön anstrengend. Danach finde ich vielleicht wieder eine Au-pair-Stelle.« Sie saß auf dem Boden, den Rücken am Kaiser-Wilhelm-Stein, biß krachend in den Apfel und blinzelte in die Sonne. Mir lag die Frage auf der Zunge, was nach der Au-pair-Stelle kommen soll, wie sie wieder ein normales Leben führen will. Aber warum jemandem Sorgen machen, die er sich selbst machen könnte, aber nicht macht?
    Dann hatte ich eine Idee. »Wir können in den Tessin fahren. Ich bin dort schon lange einen Besuch schuldig. Und wenn Sie sich vorstellen können, als Au-pair-Mädchen im Tessin zu arbeiten – Tyberg hat jede Menge Kontakte.«
    Sie nagte den Apfelbutzen ab und warf ihn weg. Sie schaute zum Himmel und in die Bäume und zog die Nase kraus. »Comme ça?« Sie schnalzte wieder mit den Fingern.
    »Comme ça.«
    Der Weg über die Hohenburg und die Löwenburg zur Burg Fleckenstein ist nicht lang, und Leo konnte sich Zeit lassen. Ich beeilte mich auf dem Rückweg nach Nothweiler, fuhr bei Weißenburg über die Grenze, ließ mir von einem eifrigen jungen Bundesgrenzschützer Fragen nach Woher und Wohin stellen und war eine Stunde später auch auf Fleckenstein. Leo redete und lachte mit einem jungen Franzosen. Sie war ganz vertieft und sah und hörte mich nicht kommen. Ich fürchtete, sie würde mich so anschauen, wie Manu Brigitte anschaut, wenn er mit den anderen Jungen spielt und sich schämt, daß seine Mama ein Auge auf ihn hat. Aber Leo begrüßte mich ganz unbefangen.
    An diesem Abend fuhren wir nicht mehr weit. Im Cheval blanc in Niedersteinbach aß Leo die ersten Austern ihres Lebens und mochte sie nicht. Dafür mochte sie den Champagner, und nach der zweiten Flasche fühlten wir uns wie Bonnie und Clyde. Wenn die Drogerie noch aufgehabt hätte, wären wir vorgefahren und hätten mit vorgehaltener Pistole Zahnbürste und Rasierklingen für mich besorgt. Um zehn rief ich Brigitte an; sie merkte, daß ich beschwipst war und nur die halbe Wahrheit sagte, und war verletzt. Es war mir egal, und ich war noch nüchtern genug, die Ungerechtigkeit dieser Gleichgültigkeit zu bemerken. Gegenüber der großzügigen Brigitte holte ich den Kampf um Selbständigkeit nach, den ich gegenüber dem nörgelnden und quengelnden Klärchen in den Jahren unserer Ehe nicht einmal

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