Selbs Betrug
Morgen war ich um zehn Uhr in der Auferstehungskirche in Viernheim. Vergeblich hatte ich mich an den Namen des Presbyters zu erinnern versucht, der mich vor Jahren mit der Suche nach der heiligen Katharina beauftragt hatte. Nach Predigt und Choral reichte er den Klingelbeutel durch die Reihen, erkannte mich und nickte mir zu. Die Predigt hatte den Suchtgefahren gegolten, der Choral von des Fleisches Eigenwill gehandelt, und die Kollekte war für die Süchtigenhilfe bestimmt. Ich war bereit, mein Päckchen Sweet Afton in den Klingelbeutel zu legen und den Zigaretten für immer zu entsagen. Aber was hätte ich dann nach der Kirche rauchen sollen?
»Herr Selb, was machen Sie hier?« Ich wartete vor der Kirche auf ihn, und er kam gleich auf mich zu. Hinter uns fuhr die OEG vorbei.
»Ich habe Fragen, auf die Sie vielleicht die Antworten wissen. Darf ich Sie zum Frühschoppen einladen?«
Wir gingen zum Goldenen Lamm. »Ah, der Wellerschorsch. Früh dran heute.« Der Wirt führte uns zum Stammtisch.
»Wir können in Ruhe reden, die anderen kommen später«, erklärte Weller. Wir bestellten zwei Schoppen Hauswein.
»Ich ermittele in einem Mordfall. In der Aktentasche des Ermordeten war eine Landkarte mit dem Wald nördlich von Viernheim, der Viernheimer Heide und dem Staatsforst Lampertheim. Ich glaube nicht, daß er wegen der Landkarte ermordet worden ist. Vielleicht wegen des Waldes? Es wird geredet über den Wald, es wird über ihn geschrieben. Sie kennen sicher den Artikel, der im März im Viernheimer Tageblatt stand.«
Er nickte. »Das war nicht der einzige. Im ›Spiegel‹ stand was über Giftgas im Forst und auch im ›Stern‹. Nie was Genaues, immer nur Gerüchte. Und ich soll Ihnen sagen, was los ist? Ach, Herr Selb.« Er wiegte seinen grauen Kopf.
Mir fiel wieder ein, daß er Polsterer war, damals eine eigene Polsterei hatte und klagte, daß die Leute heute zu Ikea gehen, ihre Sofas und Sessel billig kaufen, kaputtsitzen und wegwerfen. »Haben Sie Ihre Polsterei noch?«
»Ja, und es geht wieder. Ich habe eine Menge Kunden aus Heidelberg und Mannheim, die ihre alten Sachen aufpolstern lassen. Die von der Oma und vom Opa oder Antiquitäten. Aber was soll ich Ihnen zum Forst sagen? Ich kümmere mich nicht drum. Was soll’s auch. Die werden schon schauen, daß nichts passiert. Ich hab denen nicht zu sagen, wie sie ihre Sachen machen. Die haben mir auch nicht zu sagen, wie ich meine mache. Und wenn was passieren würde, ich meine, weil vielleicht was passieren könnte – soll ich deswegen wegziehen? Das Haus aufgeben und das Geschäft? Nur weil Schreiberlinge sich in Zeitungen wichtig machen?«
Ein Mann von kleinem Wuchs und mit wichtiger Miene kam an den Tisch, klopfte zweimal mit der Faust auf die Platte, grüßte »Mahlzeit« und setzte sich.
»Herr Hasenklee«, stellte Weller vor, »unser Rektor.« Ein Lehrer, der mich, von Weller ins Gespräch gezogen, sogleich belehrte, daß er hier nicht Kinder unterrichten würde, wenn die Kinder hier gefährdet wären.
»Wenn doch – was würden Sie machen?«
»Was soll die Frage? Ich bin jetzt zwanzig Jahre Lehrer und setze mich immer voll und ganz für meine Kinder ein.«
Weitere Mitglieder des Stammtisches kamen, ein Apotheker, ein Arzt, der Leiter der Sparkasse, ein Bäckermeister und einer, der dem Arbeitsamt vorstand. Giftgas im Staatsforst Lampertheim? Olle Kamellen. Der Vorsteher des Arbeitsamts deutete es an, der Sparkassenleiter sprach’s aus: »Es ist kein Zufall, daß das Gerücht immer wieder hochkommt. Der Industriestandort Viernheim steht in hartem Konkurrenzkampf. Da ist Mannheim und braucht jede müde Mark, Weinheim erweitert das Industriegebiet ums Autobahnkreuz, und kaum haben wir einen Investor aufgetan, machen die Brüder aus Lampertheim ihm ein sattes Angebot. Hinter dem Gerücht stehen handfeste Interessen, sage ich Ihnen, handfeste Interessen.« Die anderen nickten. »Ich bin froh, daß das Zeug aus Fischbach weg ist. Damit ist der Giftgasquatsch keine Schlagzeile mehr wert.« – »Oder sind wir jetzt erst recht dran? Viernheim statt Fischbach?« – »Unsinn, man konnte überall lesen, daß mit der Operation Lindwurm alles Giftgas raus aus Deutschland ist.« – »Unglaublich, daß das ›Tageblatt‹ im März den Artikel gedruckt hat.« – »Habt ihr gemerkt, seit ein paar Tagen schleicht hier ein Reporter rum.« – »Man muß auch noch freundlich sein zu den Burschen, sonst rächen sie sich an uns allen.«
»Sie dürfen auch
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