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Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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nicht die Kommunisten vergessen«, raunte mir Rektor Hasenklee zu, der neben mir saß. »Für die wär das ein gefundenes Fressen.«
    »Heutzutage?«
    »Jedenfalls war der alte Henlein, der in den sechziger und siebziger Jahren wegen des Forsts hat Flugblätter verteilen und Aufruhr machen wollen, Kommunist. Stimmt schon, jetzt hört man nichts mehr von ihm und von Marx und Lenin auch nicht. Wenn Sie mich fragen – unsere Karl-Marx-Straße ist ein Skandal. Stellen Sie sich vor, Leningrad heißt schon wieder Petersburg, in ein paar Jahren gibt’s im ganzen Osten keinen Marxplatz und keine Marxstraße mehr, nur in Viernheim. Wir sollten sie Chemnitzstraße nennen. Marx schuldet Chemnitz was, finde ich, und es wäre auch ein positives Signal für die Investoren.«
    Ich fragte die Runde noch nach den Tankwagen in Straßenheim. Alle wußten davon. »Die orangen Tankwagen vom THW ? Die sind immer mal hier, die machen Übungen.«
    Ich verabschiedete mich. Die Straßen waren leer. Alle saßen schon beim Sonntagsbraten, und ich eilte zu den grünen Klößen und zur thüringischen Hammelkeule, die bei Brigitte in der Röhre schmorte. Sie vollzieht die deutsche Einigung kulinarisch.
    Ob die Stammtischrunde nur mir etwas vormachte oder auch sich oder ob sie alles nach bestem Wissen und Glauben gesagt hatten – ich wußte es nicht. Wellers Standpunkt war klar. Selbst wenn Giftgas im Forst gelagert war und ihn und alle gefährdete – gibt man deshalb seine Existenz auf? Fängt mit sechzig in Neustadt oder Groß Gerau noch mal von vorne an? Man macht’s auch nicht mit fünfzig und nicht mit vierzig. Der einzige Unterschied ist, daß man, wenn man jünger ist, sich eher etwas vormacht. Das verstand ich alles, und trotzdem kam mir die Runde gespenstisch vor, wie sie am düsteren, rauchigen Stammtisch ihre Verschwörungsgeschichten ersann.
    Am Nachmittag war es hell und luftig. Wir tranken im Garten Kaffee, Manu machte seinem brasilianischen Vater Ehre und Sonja den Hof, und Lisa war eine nette junge Frau. Natürlich kannte sie die Geschichten über das Giftgas im Forst. Sie erinnerte sich auch an den alten Henlein, ein buckliges Männlein, das lange Zeit Samstag um Samstag auf dem Apostelplatz gestanden und Flugblätter verteilt hatte. Sie wußte auch von Patienten zu berichten, die in Abständen über Hautausschläge, Stirnhöhlenvereiterungen, Krämpfe, Erbrechen und Durchfall klagten – öfter, als sie das aus Rohrbach, wo sie früher gewohnt und gearbeitet hatte, zu kennen meinte.
    »Haben Sie mit hiesigen Ärzten darüber gesprochen?«
    »Ja, und die wußten auch, was ich meine, aber letztlich waren wir uns nicht sicher. Da müßte man Statistiken machen mit Untersuchungen und Vergleichsgruppen. Und dann gibt’s ja die KV , die Kassenärztliche Vereinigung, die die Abrechnungen kriegt und den Überblick hat. Der müßte eigentlich auffallen, wenn’s bei uns anders ist als anderswo.«
    »Haben Sie Angst?«
    Sie schaute mich offen an. »Klar hab ich Angst. Tschernobyl, der Treibhauseffekt, die Vernichtung der Regenwälder, die Zerstörung der Artenvielfalt, Krebs und Aids – wie soll man in dieser Welt keine Angst haben?«
    »In Viernheim vielleicht besonders viel?«
    Sie zuckte mit den Schultern, und am Ende des Gesprächs war ich ebenso schlau wie beim Abschied von der Stammtischrunde. Daß Sonntag war und man an Sonntagen nicht schlauer werden muß, war kein Trost.

10
Wo beides harmonisch zusammenklingt
    Ich holte Turbo wieder nach Hause. Er hatte der Ratte Rudi das Genick gebrochen, und Röschen hatte es ihm mit Thunfisch vergolten. Ich finde, er kriegt Probleme mit seiner Figur.
    Den Abend widmete ich meinem Sofa. Ich nahm eine Rasierklinge, eine alte, große, nicht platinbeschichtet und doppelt federnd im schwingenden Scherkopf gelagert, sondern handfest und handlich. Ich kippte das Sofa um, trennte mit der Klinge hinten unten die Naht auf, fuhr mit dem Arm in die Füllung und suchte nach der Kugel aus Lemkes Pistole. Die andere Kugel, die Dantes Beatrice ins Inferno gestürzt hatte, hatte ich nach Lemkes Anschlag verwirrt und achtlos mit den Scherben weggeworfen.
    Sie war auch nicht so schön erhalten gewesen wie die, die ich nach einer Weile aus dem Sofa fischte. Die andere hatte zwar den Marmor geschafft, war von ihm aber plattgedrückt und zerkratzt worden. Diese hier war von der Füllung des Sofas nur sanft gebremst worden. Ich zeigte das glatte, glänzende, wohlgeformte und bösartige Projektil Turbo. Er

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