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Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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mochte nicht damit spielen.
    Schwieriger als das Auftrennen war das Zunähen. Eigentlich empfinde ich Nähen und Bügeln als tätige Meditation und denke neidvoll an die vielen, vielen Frauen, denen dieses meditative Glück reichlich zufällt. Aber hier war’s ein harter Kampf mit Leder, Nadel, Fingerhut und reißendem Faden.
    Danach stellte ich das Sofa auf, packte das Nähzeug weg und trat auf den Balkon. Die Luft war lau. Die ersten Nachtfalter dieses Sommers schlugen an die Scheibe oder fanden den Weg durch die Tür und tanzten um die Deckenlampe. Ich hadere nicht mit meinem Alter. Aber es gibt Frühsommerabende, an denen man, wenn nicht jung und verliebt, in dieser Welt einfach fehl am Platz ist. Ich seufzte, schloß die Tür und zog die Gardinen vor.
    Das Telephon klingelte. Ich nahm ab und hörte zuerst nur starkes Rauschen und eine leise, ferne Stimme, die ich nicht verstand. Dann klang die Stimme nah und klar, im Hintergrund rauschte es weiter und echote jedes gesprochene Wort: »Gerd? Hallo, Gerd?« Es war Leo.
    »Wo bist du?«
    »Ich soll dir ausrichten … ich will dir sagen, daß du vor Helmut keine Angst haben mußt.«
    »Und um dich? Wo bist du?«
    »Hallo, Gerd! Hallo! Ich hör dich nicht. Bist du noch dran?«
    »Wo bist du?«
    Die Leitung war tot.
    Ich dachte an Tybergs Plädoyer für den Schuster, der bei seinem Leisten bleibt. Ich sah Leo mit Lemke in Palästina oder in Libyen. Als wir zusammen waren, war ich sicher, daß sie mit einer Karriere als Terroristin nichts im Sinn hat. Sie war in eine dumme Sache hineingeraten, wollte sie hinter sich lassen, möglichst ungeschoren davonkommen und wieder ein normales Leben führen, wenn nicht das alte, dann ein neues. Ich war auch sicher, daß das die beste Lösung ist. Kinder werden im Gefängnis nicht besser. Aber im Guerilla-Training in Palästina oder in Libyen auch nicht.
    Das sind keine Gedanken, mit denen sich’s gut schläft. Ich war früh auf und früh bei Nägelsbach in Heidelberg.
    »Vertragen wir uns wieder?«
    Er lächelte: »Wir arbeiten am selben Fall. Ich höre, Ihr neuer Auftraggeber ist der alte Wendt. Aber sonst weiß keiner von uns so recht, wo der andere steht. Stimmt’s?«
    »Aber jeder von uns weiß doch, daß es nicht ganz falsch sein kann, was der andere macht.«
    »Ich hoff s.«
    Ich legte die Kugel vor ihm auf den Schreibtisch. »Können Sie feststellen, ob sie aus der Pistole kommt, mit der Wendt erschossen wurde? Und können wir uns heute abend treffen? In Ihrem Garten oder auf meinem Balkon?«
    »Kommen Sie zu uns. Meine Frau freut sich.« Er nahm die Kugel und wog sie in der Hand. »Das Ergebnis habe ich heute abend.«
    Bei der Rhein-Neckar-Zeitung fand ich Tietzke am Computer. Wie er dasaß, erinnerte er mich an die Zeugen Jehovas, die mit dem »Wachtturm« an den Straßenecken stehen. Dieselbe graue, freud- und hoffnungslose Gewissenhaftigkeit. Ich fragte ihn nicht, über welches graue Thema er gerade schrieb.
    »Zeit für einen Kaffee?«
    Er tippte weiter und blickte nicht auf. »In exakt dreißig Minuten im ›Schafheutle‹. Ein Kännchen Mokka, zwei Eier im Glas, ein Grahambrötchen, Butter, Honig, Appenzeller oder Emmentaler. Gebongt?«
    »Gebongt.«
    Er ließ es sich schmecken. »Lemke? Natürlich kenne ich ihn. Oder kannte ihn. 1967/1968 gehörte er in Heidelberg zur Prominenz. Sie hätten ihn hören müssen, wenn er den Hörsaal 13 zum Kochen brachte. Wenn die Rechten, die ihn besonders gehaßt haben, bei seinen Auftritten ihre Sprechchöre anstimmten, ›Sieg Heil, Lemke, Sieg Heil, Lemke‹, und er dagegen ›Ho, Ho, Ho Chi Minh‹ dirigierte – meine Güte, ging da die Post ab. Wenn die Sprechchöre schwach begannen, konnte er sie noch überschreien, dann wurden sie lauter, und er verstummte und stand bewegungslos am Katheder, wartete einen Moment, fuhr dann mit den Armen hoch und schlug mit beiden Fäusten den Rhythmus ›Ho, Ho, Ho Chi Minh‹ aufs Katheder. Zuerst hörte man’s im Geschrei der anderen gar nicht, dann skandierten einige mit, dann mehr und mehr. Er blieb stumm, schlug nach einer Weile auch nicht mehr aufs Katheder, sondern dirigierte in der Luft, richtig wie ein Dirigent, und manchmal machte er eine komische Nummer draus, und es endete in gewaltigem Gelächter. Selbst wenn die Rechten in der Mehrzahl waren, gewann ›Ho Ho Ho Chi Minh‹ gegen ›Sieg Heil, Lemke‹. Er hatte ein tolles Gefühl fürs Timing und fing genau dann an, wenn die anderen noch kräftig schrien, aber eigentlich die

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