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Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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man es trinkt. Vielleicht wird einem flau, vielleicht richtig übel, vielleicht scheißt man sich das Gedärm blutig oder kotzt sich die Galle aus dem Hals.«
    Straßenheim lag hinter uns.
    »Woher wissen Sie das alles?«
    »Ich zähle eins und eins zusammen – was sonst? Von den offiziellen Stellen ist nichts zu erfahren. Die halten sich so bedeckt, daß dies allein schon verdächtig ist.« Er fuhr wieder schneller. »Wir überqueren gerade die Grenze des Trinkwassergebiets Käfertal, das zur weiteren Schutzzone gehört. Ich muß Ihnen nicht sagen, was auch in dieser Schutzzone liegt. Klar, die weitere Schutzzone ist noch nicht die engere und die noch nicht das Fassungsgebiet. Das Munitionslager liegt nur in der weiteren Schutzzone. Aber die engere ist ganz nah, sie fängt beim Viernheimer Kreuz an, zweitausend Meter hinter Straßenheim. Jedenfalls hat’s Straßenheim erwischt, in welcher Zone auch immer. Weiß der Teufel, wie die Grundwasserströme fließen.« Seine Rechte machte einen resignierten Schlenker, klatschte auf die Glatze und strich das fehlende Haar nach hinten. Mit Zunge und Lippe zog er Schnurrbarthaare zwischen die Zähne und malmte zornig.
    Ich kann nicht sagen, daß mir der Himmel nicht mehr so blau und der Raps nicht mehr so gelb geleuchtet hätte. Ich hatte immer schon Schwierigkeiten, an die Existenz von etwas zu glauben, das ich nicht sehe: Gott, die Relativität von Raum und Zeit, die Schädlichkeit des Rauchens, das Ozonloch. Ich war auch skeptisch, weil es vom Munitionslager zum Benjamin-Franklin-Village in Käfertal nur wenige Kilometer sind und die Amerikaner schwerlich ihre eigenen Leute gefährden, und weil auch Viernheim, näher am Munitionslager als Straßenheim, in seiner Wasserversorgung nicht beeinträchtigt schien. Überdies – hatte Peschkalek das Straßenheimer Wasser probiert? Hatte er es untersuchen lassen?
    Wir waren wieder in Edingen. Als wir die Grenzhöfer Straße entlangfuhren, kamen gerade Frau Büchler und Wendts Leute aus dem Grünen Baum. Der Leichenschmaus hatte lange gedauert. Vor dem Friedhof wartete mein Kadett.
    »Wir müssen über das Ganze in Ruhe reden.«
    Er gab mir seine Karte. »Rufen Sie mich an, wenn Sie Zeit haben. Sie glauben mir nicht. Reportergeschwätz, denken Sie, Journalistenlatein. Gebe Gott, daß Sie recht haben.«

7
Tragödie oder Farce?
    Peschkaleks giftige Grundwasserströme verfolgten mich in den Schlaf. Im Traum wuchs das Straßenheimer Kirchlein zur Kathedrale, von deren Dach die Fratzen grünes, gelbes und rotes Wasser spien. Als ich sah, daß die Kathedrale aus Gummi war, aufgebläht, mit bauchenden Wänden, war’s auch schon um sie geschehen. Sie platzte, und aus ihr floß ekliger brauner Schleim. Ich wachte auf, als er meine Füße erreichte, und schlief nicht mehr ein. Beim Gespräch mit Peschkalek hatte ich keine Angst gehabt. Jetzt war sie da.
    Mir kamen Erzählungen meines Vaters in Erinnerung. Solange ich auf der Schule war, hatte er über Erlebnisse im Ersten Weltkrieg kein Wort verloren. Manche Schulkameraden gaben mit den Heldentaten ihrer Väter an, und ich hätte es auch gerne getan. Ich wußte, daß er mehrmals verwundet, dekoriert und befördert worden war. Davon mußte sich erzählen, damit mußte sich angeben lassen. Aber er wollte nicht. Erst in den letzten Jahren vor seinem Tod wurde er gesprächig. Mutter war gestorben, Vaters Tage waren einsam, und wenn ich ihn besuchte, redete er über vieles, auch über den Krieg. Vielleicht wollte er mich auch von der Vorstellung befreien, wir brauchten mehr Lebensraum, selbst um den Preis eines Kriegs.
    Er war dreimal verwundet worden. Die ersten beiden Male anständig, wie er es nannte, von einem Granatsplitter bei Ypern und bei Peronne durch ein Bajonett. Das dritte Mal war seine Kompanie bei Verdun in einen Gasangriff geraten. »Senfgas. Kein grüngelbes, stinkendes Gewölk wie Chlorgas, das du sehen und vor dem du dich schützen kannst. Senfgas ist heimtückisch. Du siehst es nicht und riechst es nicht. Wenn du nicht den Kameraden sich an die Kehle greifen sahst oder den sechsten Sinn hattest und gerade noch die Gasmaske überzogst, war’s aus, im Handumdrehen.« Er hatte den sechsten Sinn gehabt und überlebt, während die meisten seiner Kompanie umkamen. Aber er hatte genug abgekriegt, um monatelang zu leiden. »Das Fieber ging. Aber der Schwindel, obwohl du dich nicht bewegst, und ständig mußt du kotzen, kotzen, kotzen … Außerdem verätzt dir Senfgas die Augen.

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