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Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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Das war das Schlimmste: die Angst, daß es dich so erwischt hat, daß du nie wieder sehen kannst.«
    Ich habe die Geschichte vom Gasangriff mehr als einmal gehört. Jedesmal wenn mein Vater vom Aufsetzen der Gasmaske erzählte, schloß er die Augen und hielt schützend die Hand vors Gesicht, bis er von der Entlassung aus dem Lazarett berichten konnte.
    Hatte Leo gewußt, was ihr Freudenfeuer anrichten konnte? Hatte sie’s gewollt? Hatte sie sich darum so streng angeklagt und verurteilt? Daß Lemke nicht gewußt haben sollte, was los war, konnte ich mir nicht vorstellen.
    Ich wurde immer wacher. Terrorismus in Deutschland – irgendwo steht, daß alle großen geschichtlichen Tatsachen sich zweimal ereignen, das eine Mal als Tragödie und das andere Mal als Farce, und den Terrorismus der siebziger und achtziger Jahre, die Aufregung über ihn und den Kampf gegen ihn hatte ich stets als Farce empfunden. Jetzt mußte ich mich fragen, ob ich mich getäuscht hatte. Giftgas in Luft, Wasser und Boden, das ist keine Farce mehr. Und ich fahre mit Leo durch Frankreich und die Schweiz, als sei die Welt ein einziger Frühling.
    So kamen zur Angst die Selbstvorwürfe. Wie ich mich im Bett auch legte, ich lag falsch. Ob ich die Augen aufhatte oder zu – die Gedanken drehten sich im selben Kreis. Sie drehten sich dumm und wund – bis der Morgen graute, die Vögel sangen, ich geduscht hatte und wieder mein waches, vernünftiges, skeptisches Selbst war.

8
Denk mal nach!
    Für Samstag hatte ich Brigitte und Manu einen Besuch in Heidelberg versprochen. Einkaufen, Eis essen, Tiergarten, Schloß – eben das ganze Programm. Wir nahmen die OEG und kamen am Bismarckplatz an.
    Ich war lange nicht mehr dort gewesen. Alles war lila. Haltestellen, Wartehäuschen, Kioske, Bänke, Papierkörbe, Laternen. Dazwischen störten ein gelber Briefkasten und ein blasser Bismarck.
    »Schau mal, die Frauenbewegung hat den Bismarckplatz erobert.«
    Brigitte blieb stehen. »Du mit deinen dummen Chauvisprüchen. Füruzan buttert Philipp unter, ich buttere dich unter, jetzt haben die Frauen auch noch den Bismarckplatz besetzt, und du armer Mann weißt gar nicht mehr …«
    »Ist gut, Brigitte. Ich habe einen Scherz gemacht.«
    »Hahaha.« Sie ging weiter, ohne uns durch Blick oder Geste zum Mitkommen aufzufordern, und ich bekam Schuldgefühle, obwohl ich ein gutes Gewissen hatte. Als sie in die Buchhandlung Braun ging, wartete ich draußen. Hätte ich ihr zur Reihe »Neue Frau« folgen sollen? Mit demütigem Blick, hängenden Schultern und einfühlsamen Fragen? Manu blieb mit Nonni bei mir.
    Wir sahen dem dichten Verkehr auf der Sophienstraße zu. »Wo kommen sie wieder raus?« Manu zeigte auf die Autos, die in der Tiefgarageneinfahrt auf der Sophienstraße verschwanden.
    »Hinter den Bäumen, glaube ich.«
    »Können sie dort raus, wo wir neulich geparkt haben?«
    Ich verstand nicht. »Aber das war doch … Meinst du die Tiefgarage hinter der Heilig-Geist-Kirche?«
    »Ja, das gibt’s doch manchmal, daß was ganz woanders auftaucht als verschwindet. Ich fand das praktisch, wenn man unter der Erde von der einen in die andere Tiefgarage fahren könnte, wenn die Parkplätze besetzt sind oder die Straßen verstopft. Denk mal nach!« Er sah mich an, als sei ich schwer von Begriff, und holte zu weitschweifigen Erläuterungen aus.
    Ich hörte ihm nicht zu. Seine Vision eines unterirdischen Verkehrsflusses ließ mich wieder an Peschkaleks giftige Grundwasserströme denken.
    »Du hörst mir gar nicht zu.«
    Brigitte kam aus der Buchhandlung. Ich kaufte ihr einen weiten Rock und sie mir eine kurze Hose, in der ich wie ein Brite am Kwai aussah. Manu wollte Jeans, nicht irgendwelche, sondern ganz bestimmte, und wir suchten und liefen die Hauptstraße bis zur Heilig-Geist-Kirche ab. Ich finde die Zusammenballung bummelnder Konsumenten in Fußgängerzonen nicht sympathischer, weder ästhetisch noch moralisch, als die von paradierenden Genossen und marschierenden Soldaten. Aber ich werde nicht mehr erleben, daß in der Hauptstraße wieder Straßenbahnen fröhlich klingeln, Autos munter hupen und die Menschen beschwingten, geschäftigen Schritts dorthin eilen, wo es für sie etwas zu tun und nicht nur zu schauen und naschen und kaufen gibt.
    »Wir lassen das Schloß.« Brigitte und Manu machten lange Gesichter. »Wir lassen auch den Tiergarten.«
    »Aber du hast doch …«
    »Wir machen etwas Besseres. Wir fliegen.«
    Ich mußte nicht lange werben. Wir nahmen die OEG

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