Selbs Betrug
jung. Ich fuhr über die Autobahn, merkte am Waldorfer Kreuz, daß ich zu weit gefahren war, nahm die nächste Ausfahrt und mäanderte durch Dörfer, in denen ich noch nie gewesen war. Als ich das Psychiatrische Landeskrankenhaus erreichte und die gewundene Straße zum alten Bau hinauffuhr, leuchtete er mir von weitem entgegen. Die Gerüste waren abgeschlagen, der neue gelbe Anstrich war fertig.
In Eberleins Büro residierte der kommissarische Direktor aus Stuttgart. »Was ich zu sagen habe, sage ich Polizei und Staatsanwaltschaft.« Er ließ keinen Zweifel, daß ich nicht erwünscht war.
»Wann kommt Professor Eberlein wieder?«
»Ich weiß nicht, wann und ob er wiederkommt. Sie haben seine Adresse auf dem Dilsberg? Untere Straße, die Nummer gibt Ihnen meine Sekretärin.«
Damit war ich verabschiedet. Zum Sitzen hatte er mich gar nicht erst aufgefordert, er hatte mich vor seinem Schreibtisch stehen lassen wie der Offizier den Gefreiten. Als ich zur Tür ging, bekam die Sekretärin über das Sprechgerät die Anweisung, mir eine von Eberleins übriggebliebenen Visitenkarten zu geben. Kaum trat ich über die Schwelle, stand sie mit einem kleinen Umschlag stramm. Würde der Pförtner salutieren? Nein, er las ein buntes Blatt und sah nur kurz auf.
Ich rief Eberlein nicht erst an, ich fuhr zum Dilsberg, parkte vor dem Stadttor und fand das Haus in der Unteren Straße. »Bin in der Schönen Aussicht. E.« – Er hatte den Zettel mit Tesa an die Tür geklebt. In der Schönen Aussicht saß er auf der Terrasse.
»Sie? Der Detektiv?«
»Sie erwarten jemanden anderes, ich weiß, für mich hängt der Zettel nicht an Ihrer Tür. Aber darf ich mich kurz setzen?«
»Bitte.« Er machte im Sitzen die Andeutung einer Verbeugung. »Schauen Sie!« Er zeigte nach Süden.
Dort geht der Dilsberg sanft in die weichen Hügel des Kleinen Odenwald über. Die Aussicht ist schön, das Gasthaus, auf dessen Terrasse wir saßen, trägt seinen Namen zu Recht.
»Nein«, sagte er, »Sie müssen höher schauen.«
»Sind das …« Ich konnte es nicht glauben.
»Ja, es sind die Alpen. Mönch, Eiger, Jungfrau, Montblanc – von den anderen kenne ich die Namen nicht. Es gibt ein paar Tage im Jahr, an denen man sie sieht, ein Meteorologe könnte sagen, warum. Ich wohne seit sechs Jahren hier oben und sehe sie heute zum zweitenmal.«
Über dem Horizont war der Himmel von tiefem Blau. Dort, wo er heller wurde, hatte ein feiner, weißer Pinsel die Kette der Gipfel gemalt. Rechts und links verloren sie sich im Dunst. Darüber wölbte sich der klare Frühsommerhimmel, ein normaler Rhein-Neckar-Himmel, der nichts von dem Wunder verriet, das er am Südhang des Dilsberg enthüllte.
»Vielleicht sind wir die einzigen, die es sehen.« Außer uns war niemand auf der Terrasse.
Er lachte: »Das macht’s noch mal so schön?«
Ich hatte im Zauber des Augenblicks vergessen, daß er Psychiater war. Was folgerte er aus meiner Bemerkung? Daß ich nicht teilen kann? Daß ich Einzelkind bin? Daß ich Privatdetektiv geworden bin, weil ich die Wahrheit für mich haben und nicht den anderen lassen will? Daß ich infantil auf dem hockenbleibe, was ich in den Topf gesetzt habe?
»Herr Selb, ich vermute, daß Sie mit mir über Rolf Wendt sprechen wollen. Von der Polizei habe ich gehört, daß Sie für den Vater arbeiten. Wie weit sind Sie?« Er sah mich aufmerksam an. Gebräunt, entspannt, das Hemd offen, den Pullover über den Schultern und den Stock mit dem silbernen Knauf ans Geländer gelehnt, als brauche er ihn nicht mehr – wenn ihn die letzten Wochen gebeutelt hatten, zeigte er’s nicht oder merkte ich’s nicht.
Ich berichtete, daß die Kugel, die Wendt getötet hatte, aus der Pistole von Lemke stammte, den er als Lehmann kannte. Daß ich nicht wußte, ob Lemke Wendt ermordet hatte und warum er ihn hätte ermorden sollen. Daß alle Morde begangen werden, um Lebenslügen zu retten, und daß ich die Lebenslüge aller Beteiligten kennen müßte, aber nicht kannte. »Was war Wendts Lebenslüge? Was war Wendt für einer?«
»Ich verstehe, was Sie mit Lebenslüge meinen, glaube aber nicht, daß es Lebenslügen in Ihrem Sinn gibt. Es gibt Lebensthemen, und Wendts Thema war, es recht zu machen.«
»Es?«
»Alles. Ich habe niemanden gehabt, auf den ich mich so verlassen konnte. Ob es um die Betreuung der Patienten ging, den Umgang mit Angehörigen, gemeinsame Veröffentlichungen oder Verwaltungskram – er hat nicht geruht, bis das, was er als Aufgabe
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