Selbs Betrug
übernommen hatte, bestens erledigt war.«
»Daher der Ausdruck von Überforderung in seinem Gesicht.«
Er nickte. »Und um sich vor der Überforderung zu schützen, muß der Perfektionist sich beschränken, muß einteilen und haushalten und darf nicht aus dem vollen leben. Der Beruf läßt sich entsprechend einrichten. Das Privatleben wird oft traurig. Weil er es den Freunden recht machen will, kommt der Perfektionist nicht dazu, sich an den Freundschaften zu freuen, weil er es den Frauen recht machen will, kommt er nicht dazu, sie zu lieben. Auch Wendt war nicht glücklich. Aber er hat es immerhin geschafft, aus dem eigenen Unglücklichsein die Sensibilität für das Unglücklichsein der anderen zu ziehen.«
»Wie wird man Perfektionist? Wie ist Wendt …«
»Was für eine törichte Frage, Herr Selb. Uns Schwaben liegt der Perfektionismus im Blut, Protestanten sind Perfektionisten, damit sie in den Himmel kommen, und Kinder werden’s, wenn ihre Eltern es von ihnen erwarten. Zufrieden? Wendt war ein gescheiter, sensibler, tüchtiger und liebenswürdiger junger Mann, und es gab überhaupt keinen Anlaß, seinen Perfektionismus zu analysieren. Er war nicht glücklich. Aber wo steht, daß wir hier sind, um glücklich zu sein?« Er griff seinen Stock und klopfte den Punkt unter das Fragezeichen.
Ich wartete eine Weile. »Wußten Sie, was es mit Leo Salger auf sich hatte und wie Rolf Wendt zu ihr stand?«
Er lachte. »Deswegen bin ich gefeuert worden, also sollte ich auch etwas darüber wissen. In der Tat wußte ich, worein Frau Salger verstrickt war. Ich nahm’s, wie ich alle Verstrickungen nehme, die in Drogen, in Beziehungen, in Arbeit. Daß Frau Salger davon loskommen wollte, war offenkundig. Offenkundig war auch, daß dieser Kindheits- und Jugendfreund, Lemke, Lehmann, dieser Erzengel Michael, eine unselige Rolle spielte. Sie wissen, daß Wendt ihn kannte? In den frühen siebziger Jahren, als Wendt beim Sozialistischen Patientenkollektiv mitmachte und Lemke seine Kaderpartei aufbaute, hatten die beiden Kontakt.«
Ich verstehe nichts von Psychiatrie und Psychiatrischen Krankenhäusern. Ich weiß, daß die Vorstellung von der Irrenanstalt mit schreienden und tobenden Irren und vergitterten Türen und Fenstern überholt ist. Ich bin auch froh darüber. So wie es war, als Eberhard in der Anstalt war, war es nicht gut. Aber daß Leo in die Anstalt gehört hatte, sah ich nicht recht ein. Die Therapie durch Wendt, mit dem sie schon befreundet, der sogar in sie verliebt war und der außerdem mit Lemke bekannt war, von dem sie sich in der Therapie lösen wollte oder sollte – das klang mir wenig professionell. Es klang nach einem therapeutischen Mäntelchen für etwas ganz anderes: Leos Versteck vor der Polizei. Das alles unter Eberleins Augen – ich verstand die Entscheidung der vorgesetzten Behörde, ihn vom Dienst zu suspendieren. Ich deutete meine Zweifel an.
»Als Frau Salger zu uns kam, hatte sie eine massive Depression. Daß sie Wendt schon kannte und daß Wendt Lemke kannte und daß sie Lemke kannte – das alles kam erst später und nach und nach heraus. Sie haben recht, das sind keine optimalen Bedingungen für eine Therapie. Andererseits ist es immer heikel, eine Therapie mittendrin abzubrechen. Als wir die Probleme auf dem Tisch hatten, hat Wendt auch das Richtige getan. Er hat seine Therapie zu einem raschen Ende gebracht und Frau Salgers Aufenthalt beendet.«
Ich muß skeptisch geschaut haben.
»Ich kann Sie nicht überzeugen? Sie meinen, ich hätte Frau Salger und Wendt der Polizei übergeben sollen?« Er machte mit der Linken eine entsagende Gebärde.
Die Alpen waren verschwunden.
17
Zu spät
Als ich mich abends schlafen legte, hoffte ich, von den Alpen zu träumen: Am Dilsberg Anlauf nehmen, mich in die Lüfte schwingen, mit ruhigen Schlägen meiner großen Flügel über Odenwald, Kraichgau und Schwarzwald zu den Alpen fliegen, dort um die Gipfel kreisen und auf einem Gletscher landen.
Kaum war ich eingeschlafen, klingelte das Telephon. Auch diesmal rauschte und echote die Leitung. Aber ich hörte ihre Stimme klar und sie meine anscheinend auch.
»Gerd?«
»Kommst du zurecht? Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Gerd, ich hab Angst. Und ich will nicht mehr bei Helmut bleiben.«
»Dann bleib nicht bei ihm.«
»Ich denke, ich möchte nach Amerika. Findest du die Idee gut?«
»Warum nicht? Wenn du das Land und die Leute magst – du warst doch als Schülerin gerne
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