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Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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Journal hatten frühe Flaneure Platz genommen und genossen die Sonne. Der Kellner spannte die Sonnenschirme auf. Wenn in großen Katastrophen alles zusammenbricht, bleibe ich gelassen. Aber die kleinen Katastrophen, die tückischen Klippen im breiten Strom des Lebens machen mich fertig.
    Ich sah in Füruzans erschrockenen, verletzten Augen, daß Philipp kam, noch ehe ich ihn selbst sah. Er hielt sich gerade und war makellos angezogen: dunkelblauer Seidenanzug, blau-weiß gestreiftes Hemd mit weißem Kragen und goldener Nadel und Paisley-Krawatte. Er lief mit weiten Schritten, stieß hier und da an einen Marktstand und schob manchmal jemanden aus dem Weg, weil er es nicht um ihn herum schaffte. Er sah uns, winkte ausholend und setzte ein schiefes Lächeln auf.
    »Ich bin zu spät.« Er hob entschuldigend die Schultern. »Wollen wir nicht gleich rüber zu Antalya Türk? Ich meine, es ist doch schön, daß wir uns kennenlernen oder wiedersehen, das ist ein Grund zum Feiern auch ohne …«
    »Philipp …«
    Er schaute zu Boden. »Es tut mir leid, Fürzchen. Ich schaff’s nicht. Ich habe eine ganze Flasche von dem Zeug getrunken, das Gerd immer trinkt, aber trotzdem schaff ich’s nicht. Ich würd’s gerne schaffen, aber es geht …« Er blickte auf. »Vielleicht geht’s in einer Weile. Weißt du, wo ich jetzt soviel Alkohol habe, wäre es am Ende gar nicht gültig.«
    Die Mutter zischte, und Füruzan zischte zurück. Der Bruder hob den Arm und klatschte einen Schlag in ihr Gesicht. Sie legte die Hand an die Wange, staunend, ungläubig, sagte ihrem Bruder ein paar Worte, die ihn bleich werden ließen, und schlug ihm den Rücken ihrer erhobenen Hand mit wegwerfender Gebärde über den Mund.
    Ich sah auf seine Lippe, die Füruzans Ring blutig gerissen hatte, und nicht auf die Hand, in der ein Messer blitzte. »Langsam, langsam, junger Mann« – Philipp trat begütigend zwischen Bruder und Schwester und bekam das Messer in die linke Seite. Als der Bruder es herauszog und wieder zustoßen wollte, schaffte ich es gerade noch rechtzeitig, den Sonnenschirm gegen ihn zu stoßen. Das überraschte ihn mehr, als es ihn verletzte, aber immerhin klirrte das Messer auf dem Boden, und als er sich bückte und danach griff, trat ich ihm auf die Finger. Philipp ging zu Boden, über dem Messer, und der Bruder begnügte sich damit, vor seiner Schwester auszuspucken, kehrtzumachen und davonzugehen.
    »Du mußt die Wunde zubinden«, Philipp preßte die Linke auf die Wunde und sprach leise, aber klar, »ganz fest und ganz schnell. Die Milz blutet wie blöd. Zerreiß dein Hemd.«
    Ich zog Jacke und Hemd aus, zerrte vergebens am Hemd und ließ es Füruzan, die zubiß und Streifen um Streifen riß.
    »Fester«, herrschte Philipp sie an, als sie den Verband anlegte.
    Passanten blieben stehen, wollten wissen, was geschehen war, und boten Hilfe an. »Kann deine Kicherschwester vom Paradeplatz eine Taxe holen? Ja? Dann ruf du bei mir an, Gerd, bring die Abteilung auf Trab und laß den OP vorbereiten. Scheiße, er hat auch die Lunge erwischt.« Philipp redete mit blutigem Mund.
    Die kleine Schwester rannte los. Vom Telephon aus sah ich, daß sie nach wenigen Minuten mit der Taxe zurück war. Der Verband war fertig, Füruzan stützte Philipp zur Taxe, und der Fahrer mochte ihn für betrunken und angeschlagen halten, aber sah kein Blut, sondern nur einen dunkelblauen Seidenanzug, der naß geworden war. Füruzan stieg mit ihm ein. Die Mutter verscheuchte die Passanten. Ich weiß nicht, was Füruzan dem Fahrer sagte. Er fuhr mit quietschenden Reifen an.

18
Frieden im Herzen
    »Nach menschlichem Ermessen müßte alles wieder werden. Wir haben die Milz rausgenommen und die Lunge aufgerichtet.« Der Arzt, der Philipp operiert hatte, nahm die grüne Haube ab, knüllte sie zusammen und warf sie in den Abfalleimer. Er sah mich rauchen. »Haben Sie eine für mich?«
    Ich gab ihm die Schachtel und Feuer. »Kann ich zu ihm?«
    »Meinethalben. Sie sollten einen Kittel anziehen. Es dauert eine Weile, bis er wieder da ist. Und wenn seine Freundin kommt, löst sie Sie ab.«
    Füruzan war nicht mehr dagewesen, als ich auf der Station angekommen war. Vielleicht erschoß sie gerade ihren Bruder. Oder versöhnte sich mit ihm. Oder grollte Philipp und wollte ihn nicht mehr sehen. Ich saß an seinem Bett und hörte seinem schweren Atem zu und dem leisen Zischen der Pumpe, von der ein Schlauch unter das Nachthemd zwischen die Rippen führte. Ein anderer Schlauch führte

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