Selbs Betrug
weiteren Führungszahlen zwischen zwei und elf Folgezahlen. Die Führungszahlen standen für Themen: Portrait, Akt, Mode, Politik, Verbrechen, Werbung usw. die Folgezahlen für einzelne große Projekte oder auch alle kleinen Projekte eines Jahrs. Es war ganz einfach. Unter der Führungszahl 15 hatte Peschkalek seine großen Reportagen abgeheftet, die erste über italienische Baßgeigenbauer, die zweite über stillgelegte Stahlwerke in Lothringen und die nächsten drei über Football, Alphornblasen und Kinderprostitution in Deutschland. Der Ordner 15.6 war dem Viernheimer Anschlag gewidmet.
Ehe ich mich mit ihm auf die Toilette im Badezimmer setzte, rief ich bei Brigitte an und erzählte von Baustellen und Staus. »Ingo ist schon da? Ich werd’s vor zehn nicht schaffen, wartet bitte nicht länger.«
Sie waren mit der Suppe schon fertig und hatten gerade mit dem Seeteufel angefangen. »Wir stellen dir was warm.«
Wie in den anderen Ordnern kamen auch in diesem zuerst die Photos und dann die Texte. Ich brauchte eine Weile, bis ich erkannte, was die Photos zeigten. Sie waren dunkel, und ich wollte sie schon für mißraten halten. Aber es waren Nachtaufnahmen. Ein Wagen, vermummte Gestalten in einem Wald, Erdaufschüttungen, an denen sich die Vermummten zu schaffen machen, Uniformierte, eine Explosion mit zwei durch die Luft wirbelnden Körpern, ein Feuer, Rennende. Der Viernheimer Anschlag im Bild.
Die Texte begannen mit einem Brief an die regionale und überregionale Presse, in dem sich die Gruppe »Nach dem Herbst kommt der Winter« zum Anschlag auf das Giftgaslager im Lampertheimer Forst bekannte und Drohungen gegen Kapitalismus, Kolonialismus und Imperialismus ausstieß. In einem späteren Brief schrieb Peschkalek über einen Terroristen, der aussteigen wolle und sich ihm anvertraut, ihm Bekenntnisse übergeben und einen Videofilm überlassen habe, in dem es um den Anschlag auf das Giftgaslager in der Viernheimer Heide gehe. Peschkalek pries das Material, legte zum Beweis seiner Qualität Ausschnitte aus dem Videofilm und Auszüge aus den Bekenntnissen bei und forderte für alles zusammen eine Million. Der Brief war an das ZDF gerichtet. Das nächste Blatt des Ordners listete auf, an wen er sich danach gewandt hatte: die verschiedenen Rundfunkanstalten, das Hamburger Nachrichtenmagazin und Wochenblatt, nach den renommierten Zeitschriften die Skandalblätter, zuletzt die Boulevardpresse. Es folgten die Antworten. Bestenfalls waren sie erstaunt gehalten: Das Material sehe interessant aus, aber von einem Anschlag auf ein Giftgaslager in der Viernheimer Heide sei nichts bekannt. Gelegentlich hieß es süffisant, vom Anschlag wisse die Polizei nichts – da hatte jemand recherchiert und sich geärgert. Meistens wurde mit Vordruck oder nach Textbausteinen ohne Umschweife dankend abgesagt. Schließlich fand ich im Ordner noch die Bekenntnisse des Terroristen, ein Manuskript von 80 Seiten, sichtbar von demselben Drucker gedruckt wie Peschkaleks Briefe, und in einer Plastikfolie die amerikanische Akte. Ich verzichtete darauf, mir den Videofilm anzuschauen, der mit 15.6 gekennzeichnet war, mir reichten die Ausschnitte.
Ich brauchte eine Weile, bis ich mich auf den Weg zu Brigitte machen konnte. Ich steckte ein paar Photos ein, löschte das Licht im Badezimmer, stellte den Ordner zurück, setzte mich in den venezianischen Sessel und schaute zum Fenster hinaus. Auf dem Balkon gegenüber hatten sich drei zum Skat eingefunden; ich hörte das Reizen und Bieten und manchmal eine Faust mit der Karte auf den Tisch schlagen. Über dem Handelshafen blinkte ein rotes Licht und warnte die Flugzeuge vor einem Baukran.
Hatten also Lemke und Peschkalek ein Spektakel für die Medien inszeniert? Ich hätte schon viel früher wissen können, daß Lemke an keine politischen Kämpfe mehr glaubt und keine mehr führt. Ein Fanatiker, ein Terrorist – das paßte nicht zu ihm. Er mochte in die entsprechende Rolle schlüpfen und sie überzeugt und überzeugend spielen. Aber das war auch alles. Lemke war Spieler, Stratege, Spekulant. Mit ein paar dummen jungen Leuten hatte er Terrorismus inszeniert, so inszeniert, daß die Medien eigentlich hätten davon voll sein und sich um das Material reißen müssen. Es gab sogar Tote, vermutlich nicht geplant, jedoch nützlich für den Wert des Spektakels und den Preis des Materials. Aber niemand spielt mit: nicht die Amerikaner, nicht die Polizei, nicht die Medien. Nichts wird aus der Million, die sie
Weitere Kostenlose Bücher