Selbs Justiz
kommt es auch daher, daß ich als Kind meinen Vater nicht einen einzigen Arbeitstag zu Hause erlebt habe, und damals hatte die Arbeitswoche noch sechs Tage.
Am Donnerstag sprang ich über meinen Schatten. Gestern war mein Videorecorder von der Reparatur zurückgekommen. Ich hatte mir ein paar Kassetten ausgeliehen. Auch wenn man schon seit Jahren kaum noch Western dreht und zeigt – ich bin ihnen treu geblieben.
Es war zehn Uhr. Ich hatte ›Heaven’s Gate‹ eingeschoben, den ich im Kino verpaßt hatte und den man dort wohl nicht mehr zu sehen kriegen würde, und sah die Harvard-Absolventen im Frack den Wettlauf zur Abschlußfeier machen. Kris Kristofferson lag gut im Rennen. Da klingelte das Telefon.
»Gut, daß ich Sie erreiche, Herr Selb.«
»Haben Sie gedacht, ich wäre bei diesem Wetter an der blauen Adria, Frau Buchendorff?« Draußen regnete es in Strömen.
»Immer noch der alte Charmeur. Ich verbinde Sie mit Herrn Firner.«
»Grüß Sie, Herr Selb. Wir hatten ja gedacht, der Fall wäre erledigt, aber nun sagt mir Herr Oelmüller, daß es im System wieder losgegangen ist. Ich wäre froh, wenn Sie noch mal rüberkommen könnten, am besten heute. Wie sieht’s mit Ihrem Terminkalender aus?«
Wir verständigten uns auf sechzehn Uhr. ›Heaven’s Gate‹ dauerte fast vier Stunden, und seine Haut soll man nicht billig verkaufen.
Auf der Fahrt ins Werk dachte ich darüber nach, warum Kris Kristofferson am Schluß geweint hatte. Weil die frühen Wunden nie vernarben? Oder weil sie vernarben und eines Tages nur noch verblaßte Erinnerungen sind?
Der Pförtner am Haupttor begrüßte mich wie einen alten Bekannten, Hand am Mützenschirm. Oelmüller war distanziert. Mit von der Partie war Thomas.
»Ich habe Ihnen ja von der Falle erzählt, die wir geplant und vorbereitet haben«, sagte Thomas. »Heute nun ist sie zugeschnappt …«
»Aber die Maus ist mit dem Speck auf und davon?«
»So kann man das ausdrücken«, meinte Oelmüller säuerlich. »Genau ist folgendes passiert: Gestern früh hat uns der Zentralrechner gemeldet, daß unsere Köderdatei vom Terminal PKR 137 aus angefordert wurde, von einem Benutzer mit der Nummer 23045 ZBH . Der Benutzer, Herr Knobloch, ist in der zentralen Buchhaltung tätig. Er war allerdings zum Zeitpunkt der Datei-Anforderung in einer Besprechung mit drei Herren vom Finanzamt. Und das besagte Terminal steht am anderen Ende des Werks in der Kläranlage und wurde gestern vormittag von unserem eigenen Techniker off line gewartet.«
»Herr Oelmüller will sagen, das Gerät war während der Wartung nicht betriebsbereit«, sekundierte Thomas.
»Das heißt dann doch, daß hinter Knobloch und seiner Nummer ein anderer Benutzer und hinter der falschen Terminalnummer ein anderes Terminal sich verbergen. Haben Sie nicht damit gerechnet, daß der Täter sich tarnen würde?«
Oelmüller griff meine Frage bereitwillig auf. »Doch, Herr Selb. Ich habe das ganze letzte Wochenende überlegt, wie wir den Täter trotzdem erwischen können. Interessieren Sie die Einzelheiten?«
»Versuchen Sie’s mal. Wenn es zu schwierig wird, sag ich’s schon.«
»Gut, ich will mich bemühen, verständlich zu bleiben. Wir haben dafür gesorgt, daß auf eine bestimmte Kontrollanweisung durch das System die Terminals, die in Betrieb sind, in ihrem Arbeitsspeicher einen kleinen Schalter setzen. Der Benutzer kann das nicht bemerken. Die Kontrollanweisung wurde in dem Augenblick an die Terminals geschickt, in dem die Köderdatei angesprochen wurde. Unsere Absicht dabei war, alle Terminals, die in dieser Sekunde mit dem System kommunizierten, später anhand des Zustands des Schalters zu identifizieren, und das eben unabhängig von der Terminalnummer, unter der sich der Täter getarnt haben könnte.«
»Kann ich mir das vorstellen wie die Identifizierung eines gestohlenen Autos nicht am falschen Nummernschild, sondern an der Motornummer?«
»Na, so etwa.« Oelmüller nickte mir ermunternd zu.
»Und wie erklären Sie sich dann, daß trotz allem die Maus nicht in der Falle war?«
Thomas antwortete. »Wir haben im Moment keine Erklärung. Woran Sie jetzt vielleicht denken – ein Eingriff von außen scheidet nach wie vor aus. Die Fangschaltung der Post steht noch und hat nichts signalisiert.«
Keine Erklärung. Und das von den Spezialisten. Mich störte meine Abhängigkeit von ihrem Sachverstand. Zwar konnte ich dem, was Oelmüller mir dargelegt hatte, folgen. Aber seine Prämissen konnte ich nicht
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