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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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Sie wissen schon. Wir möchten in unserem Informatik-Spektrum einen Bericht über das hiesige Modell der direkten Emissionsdatenerfassung bringen, und nachdem ich mit der Industrie gesprochen habe, würde ich gerne die andere Seite kennenlernen. Können Sie mich empfangen?«
    Er hatte nicht viel Zeit, aber bat mich hoch. Sein Zimmer war im zweiten Stock, die Tür stand offen, der Blick ging auf den Platz. Mischkey saß mit dem Rücken zur Tür am Terminal, auf dem er konzentriert und mit großer Geschwindigkeit zweifingrig tippte. Über die Schulter rief er: »Kommen Sie nur rein, ich bin gleich fertig.«
    Ich sah mich um. Der Tisch und die Stühle lagen voll mit Computerausdrucken und Zeitschriften vom ›Computer-Magazin‹ bis zur amerikanischen Ausgabe des ›Penthouse‹. An der Wand war eine Tafel, auf der in verwischter Kreide ›Happy Birthday, Peter‹ stand. Daneben streckte mir Einstein die Zunge raus, an der anderen Wand hingen Filmplakate und ein Szenenphoto, das ich keinem Film zuordnen konnte. Ich trat näher, um es mir genauer anzusehen. »Madonna«, sagte er, ohne aufzublicken.
    »Madonna?«
    Jetzt sah er hoch. Ein ausgeprägtes, knochiges Gesicht mit tiefen Querfalten auf der Stirn, einem kleinen Schnauz, einem eigensinnigen Kinn und einem wirren, vollen und schon ergrauenden Haarschopf darüber. Seine Augen blitzten mich vergnügt durch eine Brille von ausgesuchter Häßlichkeit an. Waren die Kassenarztbrillen der frühen Fünfziger wieder in Mode? Er hatte Jeans an und einen dunkelblauen Pullover, kein Hemd. »Will sie Ihnen aus meiner Filmdatei gerne auf den Bildschirm holen.« Er winkte mich zu sich, tippte einige Befehle ein, und der Bildschirm beschrieb sich blitzschnell. »Und kennen Sie das, daß man nach einer Melodie sucht, die einem nicht einfällt? Problem jedes Schlagerfans und Filmfreaks? Habe ich auch gelöst mit meiner Datei. Mögen Sie die Musik Ihres Lieblingsfilms hören?«
    »Barry Lyndon«, sagte ich, und sekundenschnell erklang piepsig, aber unverkennbar der Anfang der Sarabande von Händel, bam bam, ba bam bam. »Das ist ja doll«, sagte ich.
    »Was führt Sie her, Herr Selk? Sie sehen, ich bin im Moment sehr beschäftigt und habe kaum Zeit. Um die Emissionsdaten geht’s?«
    »Genau, um die oder vielmehr um einen Bericht über sie in unserem Informatik-Spektrum.«
    Ein Kollege kam ins Zimmer. »Spielst du wieder mit deinen Dateien rum? Bleibt der Meldedatenabgleich für die Kirchen an mir hängen – ich muß dir sagen, daß ich das höchst unkollegial finde.«
    »Darf ich Ihnen meinen Kollegen Gremlich vorstellen? Er heißt wirklich so, aber mit e. – Jörg, das ist Herr Selk vom Informatik-Spektrum. Er möchte über das Betriebsklima im RRZ berichten. Mach weiter, du bist gerade authentisch.«
    »Also Peter, also wirklich …« Gremlich blies die Backen auf. Ich schätzte beide auf Mitte Dreißig, aber der eine wirkte wie ein reifer Fünfundzwanziger und der andere wie ein schlecht gealterter Fünfziger. Gremlichs Grämlichkeit wurde durch den Safarianzug und das lange, sich lichtende Haar nur unterstrichen. Ich fühlte mich bestätigt in meiner Politik, mein nicht mehr fülliges Haar stets kurz zu tragen. Einmal mehr fragte ich mich, ob sich an meinem Haarbestand in meinem Alter noch etwas ändern würde oder ob der Haarausfall abgeschlossen war wie das Kinderkriegen bei einer Frau nach den Wechseljahren.
    »Den Bericht hättest du übrigens schon längst über dein Terminal abrufen können. Ich sitze gerade an der Auswertung der Verkehrszählung. Die muß heute noch raus. Ja, Herr Selk, und deswegen sieht es schlecht aus mit uns beiden. Oder laden Sie mich zum Mittagessen ein? Zu McDonald’s?«
    Wir verabredeten uns auf halb eins.
    Ich schlenderte durch die Hauptstraße, ein eindrucksvolles Zeugnis des kommunalpolitischen Zerstörungswillens der siebziger Jahre. Es nieselte gerade nicht. Doch das Wetter konnte sich noch nicht entscheiden, was es am Wochenende bieten sollte. Ich nahm mir vor, Mischkey nach dem Meteorogramm zu fragen. Im Darmstädter-Hof-Zentrum fand ich einen Plattenladen. Manchmal entnehme ich dem Zeitgeist Proben, kaufe mir die repräsentative Platte oder das repräsentative Buch, gehe in ›Rambo II‹ oder sehe mir eine Wahldiskussion zwischen Kohl, Rau, Strauß und Bangemann an. Madonna war gerade im Angebot. Das Mädchen an der Kasse sah mich an und fragte, ob sie die Platte als Geschenk einpacken sollte. »Nein, seh ich so aus?«
    Ich trat aus dem

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