Selbs Justiz
irisch-römischen Dampfbad und auf der Dachterrasse. In das große weiße Laken gehüllt, schlief ich in der Ruhehalle auf meinem Liegestuhl ein. Philipp fuhr Rollschuh durch lange Krankenhauskorridore. Die Säulen, an denen er vorbeifuhr, waren wohlgeformte Frauenbeine. Manchmal bewegten sie sich. Philipp wich ihnen mit lachendem Gesicht aus. Ich lachte ihm entgegen. Da sah ich plötzlich, daß es ein Schrei war, der sein Gesicht aufriß. Ich wachte auf und dachte an Mischkey.
5
Ach Gott, was beißt schon gut
Der Inhaber des ›Café O‹ hat seine Persönlichkeit in einer Einrichtung verwirklicht, die alles vereint, was Ende der siebziger Jahre modisch war, von den nachgemachten Finde-siècle-Lampen über die handbetriebene Orangensaftpresse bis zu den Bistro-Tischchen mit den marmornen Platten. Ich möchte ihn nicht kennenlernen.
Frau Mügler, die Tänzerin, erkannte ich an ihrem streng nach hinten gekämmten, in einem kleinen Pferdeschwanz endenden schwarzen Haar, ihrer knochigen Weiblichkeit und ihrem eigentlichen Blick.
Soweit sie wie Pina Bausch aussehen konnte, hatte sie es geschafft. Sie saß am Fenster und trank ein Glas handgepreßten Orangensaft.
»Selb. Wir haben gestern miteinander telephoniert.« Sie sah mich mit hochgezogener Braue an und nickte kaum merklich. Ich setzte mich zu ihr. »Nett, daß Sie sich Zeit nehmen. Meine Versicherung hat zu dem Unfall von Herrn Mencke noch einige Fragen, die seine Kollegen vielleicht beantworten können.«
»Wieso kommen Sie gerade auf mich? Ich kenne Sergej nicht besonders gut, bin noch nicht lange dabei hier in Mannheim.«
»Sie sind einfach die erste, die wieder aus den Ferien zurück ist. Sagen Sie, hat Herr Mencke in den letzten Wochen vor dem Unfall einen besonders erschöpften, nervösen Eindruck gemacht? Wir suchen nach einer Erklärung für den befremdlichen Unfallhergang.«
Ich bestellte einen Kaffee, sie nahm noch einen Orangensaft.
»Ich habe Ihnen schon gesagt, ich kenne ihn nicht gut.«
»Ist Ihnen etwas aufgefallen?«
»Er war sehr still, wirkte manchmal bedrückt, aber was heißt schon aufgefallen? Vielleicht ist er immer so, ich bin ja erst ein halbes Jahr dabei.«
»Wissen Sie, wer aus dem Mannheimer Ballett ihn besonders gut kennt?«
»Die Hanne war mal näher mit ihm befreundet, soviel ich weiß. Und mit Joschka ist er viel zusammen, glaube ich. Vielleicht können die Ihnen weiterhelfen.«
»War Herr Mencke ein guter Tänzer?«
»Ach Gott, was heißt schon gut. War kein Nurejew, aber ich bin auch keine Bausch. Sind Sie gut?«
Ich bin kein Pinkerton, hätte ich sagen können. Ich bin kein Gerling, hätte eher zu meiner Rolle gepaßt. Aber ist damit noch Staat zu machen?
»Einen Versicherungsagenten wie mich finden Sie nicht noch mal. Können Sie mir die Nachnamen von Hanne und Joschka geben?«
Ich hätte mir die Frage sparen können. Sie war ja noch nicht lange dabei, »und beim Theater duzen wir uns alle. Wie heißen Sie mit Vornamen?«
»Hieronymus. Meine Freunde nennen mich Ronnie.«
»Das wollte ich gar nicht wissen, wie Ihre Freunde Sie nennen. Ich denke, daß die Vornamen etwas mit der Persönlichkeit zu tun haben.«
Ich wäre gern schreiend weggelaufen. Statt dessen dankte ich, zahlte an der Theke und ging leise.
6
Ästhetik und Moral
Am nächsten Morgen rief ich Frau Buchendorff an. »Ich würde mir gerne Mischkeys Wohnung und Sachen ansehen. Können Sie dafür sorgen, daß ich reinkomme?«
»Fahren wir nach Büroschluß zusammen rüber. Soll ich Sie um halb vier abholen?«
Frau Buchendorff und ich fuhren über die Dörfer nach Heidelberg. Es war Freitag, die Leute kamen früh von der Arbeit und bereiteten Haus, Hof, Garten, Auto und sogar den Bürgersteig auf das Wochenende vor. Herbst lag in der Luft. Ich spürte mein Rheuma kommen und hätte das Verdeck lieber zugehabt, aber wollte nicht alt wirken und sagte nichts. In Wieblingen dachte ich an die Eisenbahnbrücke auf dem Weg nach Eppelheim. Ich würde in den nächsten Tagen hinfahren. Jetzt, mit Frau Buchendorff, erschien mir der Umweg wenig passend. »Hier geht’s nach Eppelheim«, sie zeigte hinter der kleinen Kirche nach rechts. »Ich hab das Gefühl, ich muß mir die Stelle mal anschauen, ich schaff’s nur noch nicht.«
Sie stellte das Auto ins Parkhaus am Kornmarkt. »Ich hab uns angekündigt. Peter teilte die Wohnung mit einem Bekannten, der an der TH Darmstadt arbeitet. Ich hab zwar einen Schlüssel, wollte aber nicht einfach in die Wohnung
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