Selbs Justiz
gesagt?«
»Nein, ich habe ihn auch nicht gedrängt, was dazu zu sagen, weil das Reden miteinander am Schluß oft so schwierig war.«
Ich fand die Kopie des Festschriftartikels im Leitzordner ›Reference Chart Webs‹. Er stand bei den Computerausdrucken. Das R, das C und das W waren mir ins Auge gefallen, als ich den resignierenden Abschiedsblick auf die Regale warf. Der Ordner war voll mit Zeitungs- und anderen Artikeln, etwas Korrespondenz, ein paar Broschüren und Computerausdrucken. Soweit ich sehen konnte, hatte das ganze Material mit den RCW zu tun. »Ich kann den Ordner doch mitnehmen?« Frau Buchendorff nickte. Wir verließen die Wohnung.
Auf der Heimfahrt über die Autobahn war das Verdeck zu. Ich saß mit dem Ordner auf den Knien und fühlte mich dabei wie ein Pennäler. Unvermittelt fragte mich Frau Buchendorff: »Sie waren doch Staatsanwalt, Herr Selb. Warum haben Sie eigentlich aufgehört?«
Ich holte mir eine Zigarette aus der Packung und zündete sie an. Als die Pause zu lang wurde, sagte ich: »Ich sage gleich was auf Ihre Frage, ich brauche nur noch einen Moment.« Wir überholten einen Lastzug mit gelben Planen und der roten Aufschrift ›Wohlfarth‹. Ein großer Name für ein Speditionsunternehmen. An uns brummte ein Motorrad vorbei.
»Nach Kriegsende wollte man mich nicht mehr. Ich war überzeugter Nationalsozialist gewesen, aktives Parteimitglied und ein harter Staatsanwalt, der auch Todesstrafen gefordert und gekriegt hat. Es waren spektakuläre Prozesse dabei. Ich glaubte an die Sache und verstand mich als Soldat an der Rechtsfront, an der anderen Front konnte ich nach meiner Verwundung gleich zu Beginn des Krieges nicht mehr eingesetzt werden.« Das Schlimmste war vorbei. Warum hatte ich Frau Buchendorff nicht einfach die bereinigte Version erzählt? »Nach 1945 war ich zunächst bei meinen Schwiegereltern auf dem Bauernhof, dann im Kohlenhandel, und danach ging’s langsam als Privatdetektiv los. Für mich hatte die Arbeit als Staatsanwalt keine Perspektive mehr. Ich sah mich nur als nationalsozialistischen Staatsanwalt, der ich gewesen war und auf keinen Fall mehr sein konnte. Mein Glaube war verlorengegangen. Sie können sich wahrscheinlich nicht vorstellen, wie man überhaupt an den Nationalsozialismus glauben konnte. Aber Sie sind mit dem Wissen aufgewachsen, das wir nach 1945 erst Stück um Stück bekamen. Schlimm war’s mit meiner Frau, die eine schöne blonde Nazisse war und auch blieb, bis sie zur vollschlanken Wirtschaftswunderdeutschen wurde.« Über meine Ehe wollte ich nicht mehr erzählen. »Um die Zeit der Währungsreform begann man, belastete Kollegen wieder einzustellen. Da hätte ich wohl auch wieder zur Justiz gekonnt. Aber ich sah, was die Bemühung um die Wiedereinstellung und die Wiedereinstellung selbst aus den Kollegen machte. Anstelle von Schuld hatten sie nur noch das Gefühl, man habe ihnen mit der Entlassung Unrecht getan und die Wiedereinstellung sei eine Art Wiedergutmachung. Das widerte mich an.«
»Das klingt mehr nach Ästhetik als nach Moral.«
»Ich sehe den Unterschied immer weniger.«
»Können Sie sich nichts Schönes vorstellen, das unmoralisch ist?«
»Ich verstehe, was Sie meinen, Riefenstahl, ›Triumph des Willens‹ und so. Aber seit ich älter bin, finde ich die Choreographie der Masse, die Imponierarchitektur Speers und seiner Epigonen und den tausend Sonnen hellen Atomblitz einfach nicht mehr schön.«
Wir standen vor der Haustür, und es ging auf sieben. Ich hätte Frau Buchendorff gerne in den ›Kleinen Rosengarten‹ eingeladen. Aber ich getraute mich nicht.
»Frau Buchendorff, mögen Sie noch zum Essen mit mir in den ›Kleinen Rosengarten‹ kommen?«
»Das ist nett, vielen Dank, aber ich möchte nicht.«
7
Eine Rabenmutter
Ganz gegen meine Gewohnheit hatte ich den Ordner zum Essen mitgenommen.
»Arbeitän und essän nix gut. Machän Magen kaputt.« Giovanni tat, als wolle er mir den Ordner wegnehmen. Ich hielt ihn fest. »Wir immer arbeiten, wir Deutsche. Nix dolltsche vita.«
Ich bestellte Calamari mit Reis. Auf Spaghetti verzichtete ich, weil ich in Mischkeys Ordner keine Soßenflecken machen wollte. Dafür spritzte mir der Barbera auf Mischkeys Brief an den ›Mannheimer Morgen‹, mit dem er ein Inserat aufgegeben hatte.
»Historiker der Universität Hamburg sucht für sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Studie mündliche Zeugnisse von Arbeitern und Angestellten der RCW aus der Zeit vor 1948. Diskretion und
Weitere Kostenlose Bücher