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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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Unkostenerstattung. Zuschriften unter Chiffre 379628.«

    Ich fand elf Zuschriften, teils mit krakeliger Handschrift, teils mühsam getippt, die mit nicht viel mehr als Name, Adresse und Telefonnummer auf das Inserat reagierten. Eine Zuschrift kam aus San Francisco.
    Ob etwas aus den Kontakten geworden war, war dem Ordner nicht zu entnehmen. Der Ordner enthielt überhaupt keine Aufzeichnungen Mischkeys, keinen Hinweis, warum er die Sammlung angelegt und was er mit ihr im Sinn gehabt hatte. Ich fand den von Frau Buchendorff kopierten Beitrag zur Festschrift, ferner die kleine Broschüre einer Basisgruppe Chemie, ›100 Jahre RCW – 100 Jahre sind genug‹, mit Aufsätzen über Arbeitsunfälle, Streikniederschlagungen, Kriegsgewinne, Kapital- und Politikverflechtungen, Zwangsarbeit, Gewerkschaftsverfolgung und Parteispenden. Sogar ein Aufsatz über RCW und die Kirchen war dabei, mit einem Bild von Reichsbischof Müller vor einem großen Erlenmeyerkolben. Mir fiel ein, daß ich während meiner Berliner Studienzeit ein Fräulein Erlenmeyer kennengelernt hatte. Sie war sehr reich, und Korten meinte, sie stamme aus der Familie des Vaters besagten Kolbens. Ich hatte es ihm geglaubt, die Ähnlichkeit war unübersehbar. Was wohl aus Reichsbischof Müller geworden war?
    Die Zeitungsartikel im Ordner datierten zurück bis 1947. Sie galten alle den RCW , schienen im übrigen aber wahllos zusammengestellt. Die Bilder, in der Kopie manchmal undeutlich, zeigten Korten zunächst als schlichten Direktor, dann als Generaldirektor, zeigten seine Vorgänger, Generaldirektor Weismüller, der bald nach 1945 in Ruhestand ging, und Generaldirektor Tyberg, den Korten 1967 abgelöst hatte. Vom hundertjährigen Jubiläum hatte der Photograph festgehalten, wie Korten die Gratulation Kohls entgegennahm und neben diesem klein, zart und vornehm wirkte. In den Artikeln war von Bilanzen, Karrieren und Produkten und wieder von Unfällen und Pannen die Rede.
    Giovanni räumte den Teller ab und stellte mir wortlos einen Sambuca hin. Ich bestellte einen Kaffee dazu. Am Nebentisch saß eine Frau von Vierzig und las die ›Brigitte‹. Auf dem Titelblatt erkannte ich, daß es um die Frage ›Sterilisiert – und was nun?‹ ging. Ich faßte mir ein Herz.
    »Ja, was denn nun?«
    »Wie bitte?« Sie sah mich irritiert an und bestellte einen Amaretto. Ich fragte sie, ob sie öfter hier sei.
    »Ja«, sagte sie, »nach der Arbeit gehe ich immer hier essen.«
    »Sind Sie sterilisiert?«
    »Stellen Sie sich vor, ich bin sterilisiert. Und danach habe ich ein Kind gekriegt, ein süßer Bengel.« Sie legte die ›Brigitte‹ aus der Hand.
    »Doll«, sagte ich. »Und genehmigt die ›Brigitte‹ das?«
    »Der Fall kommt bei ihr nicht vor. Es geht vielmehr um die unglücklichen Frauen und Männer, die nach der Sterilisation ihren Kinderwunsch entdecken.« Sie nippte an ihrem Amaretto.
    Ich zerknackte eine Kaffeebohne. »Mag Ihr Sohn nicht italienisch essen? Was macht er abends?«
    »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mich zu Ihnen an den Tisch setze, ehe ich die Antwort durch das ganze Lokal schreie?«
    Ich stand auf, rückte ihr einladend den Stuhl zurecht und sagte, daß ich mich freuen würde, wenn sie – na eben, was man so sagt. Sie brachte ihr Glas mit und zündete sich eine Zigarette an. Ich schaute sie mir genauer an, die etwas müden Augen, der trotzige Zug um den Mund, die vielen kleinen Falten, das glanzlose aschblonde Haar, den Ring im einen Ohr und das Pflaster am anderen. Wenn ich nicht aufpaßte, würde ich drei Stunden später mit der Frau im Bett liegen. Wollte ich aufpassen?
    »Um auf Ihre Frage zu antworten – mein Sohn ist in Rio, bei seinem Vater.«
    »Was macht er da?«
    »Manuel ist jetzt acht Jahre alt und geht in Rio in die Schule. Sein Vater hat in Mannheim studiert. Fast hätte ich ihn geheiratet, wegen der Aufenthaltserlaubnis. Als es soweit war mit dem Kind, mußte er nach Brasilien zurück, und wir haben uns darauf geeinigt, daß er es mitnimmt.« Ich guckte irritiert. »Jetzt halten Sie mich wohl für eine Rabenmutter. Aber ich habe mich ja nicht umsonst sterilisieren lassen.«
    Sie hatte recht. Ich hielt sie für eine Rabenmutter, jedenfalls eine befremdliche Mutter, und hatte keine rechte Lust, weiter zu flirten. Als ich länger schwieg, fragte sie:
    »Warum hat Sie die Sterilisationskiste eigentlich interessiert?«
    »Das ging assoziativ los, über das Titelblatt der ›Brigitte‹. Dann haben Sie mich interessiert, wie Sie

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