Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
Vom Netzwerk:
platzen.«
    Ihr fiel nicht auf, daß ich den Weg zu Mischkeys Wohnung kannte. Ich versuchte nicht, den Unkundigen zu spielen. Auf unser Klingeln öffnete niemand, und Frau Buchendorff schloß die Haustür auf. Im Hausflur stand kühle Kellerluft. »Der Keller unter dem Haus geht zwei Stockwerke tief in den Berg.«
    Der Boden war aus schweren Sandsteinplatten. An der mit Delfter Muster gekachelten Wand lehnten Fahrräder. Die Briefkästen waren alle schon einmal aufgebrochen worden. Bunte Glasfenster ließen nur wenig Licht auf die ausgetretenen Treppenstufen fallen.
    »Wie alt ist das Haus?« fragte ich, während wir in den zweiten Stock stiegen.
    »Ein paar hundert Jahre. Peter mochte es sehr gerne. Er hat schon als Student hier gewohnt.«
    Mischkeys Teil der Wohnung bestand aus zwei großen, ineinandergehenden Zimmern. »Sie müssen nicht hierbleiben, Frau Buchendorff, wenn ich mich hier umsehe. Wir können uns nachher im Café treffen.«
    »Danke, aber ich schaff das schon. Wissen Sie denn, was Sie suchen?«
    »Hm«, ich orientierte mich. Das Vorderzimmer war Arbeitszimmer, mit großem Tisch am Fenster, Klavier und Regalen an den übrigen Wänden. In den Regalen Leitzordner und Stöße von Computerausdrucken. Durch das Fenster sah ich auf die Dächer der Altstadt und den Heiligenberg. Im zweiten Zimmer standen das Bett mit einer Patchwork-Decke darüber, drei Sessel aus der Ära des Nierentisches, ein ebensolcher, ein Schrank, Fernsehapparat und Musikanlage. Vom Fenster aus sah ich nach links zum Schloß hoch, nach rechts auf die Litfaßsäule, hinter der ich vor Wochen gestanden hatte.
    »Er hatte keinen Computer?« fragte ich erstaunt.
    »Nein. Er hatte allerhand private Sachen auf der Anlage im RRZ .«
    Ich wandte mich den Regalen zu. Die Bücher handelten von Mathematik, Informatik, Elektronik und künstlicher Intelligenz, von Filmen und Musik. Daneben eine wunderschöne Gottfried-Keller-Ausgabe und stapelweise Science-fiction. Auf den Rücken der Leitzordner war von Rechnungen und Steuern, Garantiescheinen, Gebrauchsanweisungen, Zeugnissen und Urkunden, Reisen, der Volkszählung und mir schwer verständlichen Computerdingen die Rede. Ich griff mir den Ordner mit Rechnungen und blätterte darin. Im Ordner mit Zeugnissen erfuhr ich, daß Mischkey in der Quarta einen Preis gewonnen hatte. Auf dem Schreibtisch lag ein Stoß Papiere, den ich durchsah. Neben Privatpost, unerledigten Rechnungen, Programmentwürfen und Noten fand ich einen Zeitungsausschnitt.

    » RCW ehrten ältesten Rheinfischer. Bei seiner gestrigen Ausfahrt wurde der 95 Jahre alt gewordene Rheinfischer Rudi Baiser von einer Abordnung der RCW , geführt von Generaldirektor Dr. Dr. h. c. Korten, überrascht. ›Ich wollte es mir nicht nehmen lassen, diesem großen alten Mann der Rheinfischerei persönlich zu gratulieren. 95 Jahre und noch frisch wie ein Fisch im Rhein.‹ Unser Bild hält den Moment fest, in dem sich Generaldirektor Dr. Dr. h. c. Korten mit dem Jubilar freut und ihm einen Präsentkorb …«

    Das Bild zeigte im Vordergrund deutlich den Präsentkorb; es war der gleiche, den ich bekommen hatte. Dann fand ich die Kopie eines kurzen Zeitungsartikels vom Mai 1970.

    »Wissenschafller als Zwangsarbeiter in den RCW ? Das Institut für Zeitgeschichte hat ein heißes Eisen angepackt. Der letzte Band der Schriftenreihe der ›Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte‹ beschäftigt sich mit der Zwangsarbeit jüdischer Wissenschaftler in der deutschen Industrie von 1940 bis 1945. Danach sollen unter anderen namhafte jüdische Chemiker unter entwürdigenden Bedingungen an der Entwicklung von chemischen Kampfstoffen gearbeitet haben. Der Pressesprecher der RCW verwies auf die für 1972 zum hundertjährigen Jubiläum der RCW geplante Festschrift, in der sich ein Beitrag mit der Firmengeschichte unter dem Nationalsozialismus und dabei auch mit den tragischen Vorgängern befassen werde.«

    Warum hatte das Mischkey interessiert? »Können Sie einen Moment kommen«, bat ich Frau Buchendorff, die im anderen Zimmer im Sessel saß und aus dem Fenster sah. Ich zeigte ihr die Zeitungsartikel und fragte sie, ob ihr dazu was einfalle.
    »Ja, Peter hatte sich in der letzten Zeit immer wieder bei mir über dies und das erkundigt, was mit den RCW zu tun hat. Früher hat er das nicht getan. Zu der Sache mit den jüdischen Wissenschaftlern habe ich ihm auch den Artikel aus unserer Festschrift kopieren müssen.«
    »Und woher sein Interesse kam, hat er nicht

Weitere Kostenlose Bücher