Selbs Justiz
Besteckkasten.
Als ich aufwachte, war es kurz nach sieben, und sie schlief noch. Ich schlich mich aus dem Schlafzimmer, schloß die Tür hinter mir, suchte und fand die Kaffeemaschine, setzte sie in Betrieb, zog Hemd und Hose an, nahm Brigittes Schlüsselbund von der Kommode und kaufte in der Langen Rötterstraße Croissants. Ich war mit dem Tablett und dem Kaffee und den Croissants an ihrem Bett, ehe sie aufwachte.
Es war ein schönes Frühstück. Und danach auch schön noch mal zusammen unter der Decke. Dann mußte sie sich um ihre Samstagvormittagspatienten kümmern. Ich wollte sie an ihrer Massagepraxis im Collini-Center absetzen, aber sie ging lieber zu Fuß. Wir verabredeten nichts. Aber als wir uns vor der Haustür umarmten, konnten wir uns kaum trennen.
9
Lange ratlos
Schon lange hatte ich keine Nacht bei einer Frau verbracht. Danach ist die Rückkehr in die eigene Wohnung wie die Rückkehr in die eigene Stadt nach den Ferien. Ein kurzer Schwebezustand, ehe die Normalität einen wiederhat.
Ich machte mir einen Rheumatee, rein vorbeugend, und vertiefte mich noch mal in Mischkeys Ordner. Obenauf der kopierte Zeitungsartikel, der auf Mischkeys Schreibtisch gelegen, und den ich in den Ordner geschoben hatte. Ich las den dazugehörigen Festschriftsbeitrag mit dem Titel ›Die zwölf dunklen Jahre‹. Er handelte nur knapp von der Zwangsarbeit jüdischer Chemiker. Ja, es hatte sie gegeben, aber mit den jüdischen Chemikern hatten auch die RCW unter dieser Zwangssituation gelitten. Anders als bei anderen großen deutschen Unternehmen seien die Zwangsarbeiter alsbald nach dem Krieg großzügig abgefunden worden. Der Autor legte unter Hinweis auf Südafrika dar, daß dem modernen Industrieunternehmen jede Art von Zwangsbeschäftigungsverhältnissen wesensmäßig fremd sei. Im übrigen sei es gelungen, durch die Beschäftigung im Werk das Leiden in den Konzentrationslagern zu verringern; nachweislich sei die Uberlebensquote der RCW -Zwangsarbeiter höher gewesen als die der durchschnittlichen KZ -Population. Ausgiebig behandelte der Autor den Anteil der RCW am Widerstand, gedachte der verurteilten kommunistischen Arbeiter und schilderte eingehend den Prozeß gegen den späteren Generaldirektor Tyberg und seinen damaligen Mitarbeiter Dohmke.
Der Prozeß kam mir wieder in Erinnerung. Ich hatte damals die Untersuchung geführt, die Anklage hatte mein Chef, Oberstaatsanwalt Södelknecht, vertreten. Die beiden RCW -Chemiker waren wegen Sabotage und eines mir nicht mehr erinnerlichen Verstoßes gegen die Rassengesetze zum Tode verurteilt worden. Tyberg gelang die Flucht, Dohmke wurde hingerichtet. Das Ganze muß Ende 1943, Anfang 1944 gewesen sein. Anfang der fünfziger Jahre war Tyberg aus den USA zurückgekehrt, nachdem er dort sehr schnell mit einem eigenen chemischen Betrieb reüssiert hatte, trat wieder in die RCW ein und wurde bald darauf Generaldirektor.
Ein Großteil der Zeitungsartikel galt dem Brand im März 1978. Die Presse hatte den Schaden auf vierzig Millionen Mark beziffert, keine Toten oder Verletzten gemeldet und Äußerungen der RCW wiedergegeben, nach denen das von den verbrannten Pestiziden freigesetzte Gift für den menschlichen Organismus absolut ungefährlich sei. Mich faszinieren solche Erkenntnisse der chemischen Industrie: Da vernichtet ein und dasselbe Gift den Kakerlaken, der den atomaren Holocaust aller Voraussicht nach überleben wird, und ist für uns Menschen nicht schädlicher als ein Barbecue am Holzkohlengrill. Aus dem ›Stadtstreicher‹ fand sich dazu eine Dokumentation der Gruppe ›Die Chlorgrünen‹, nach der beim Brand die Sevesogifte TCDD , Hexachlorophen und Trichloräthylen freigesetzt worden waren. Zahlreiche verletzte Arbeiter seien in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in die betriebseigene Kurklinik im Luberon verbracht worden. Dann gab es noch eine Reihe von Kopien und Ausschnitten zu Kapitalbeteiligungen der RCW und zu einer letztlich folgenlosen Beanstandung des Bundeskartellamts. Es ging um die Rolle des Werks auf dem Pharma-Markt.
Vor den Computerausdrucken saß ich lange ratlos. Ich fand Daten, Namen, Zahlen, Kurven und mir unverständliche Kürzel wie BAS , BOE und HST . Waren das die Ausdrucke der Dateien, die Mischkey im RRZ privat geführt hatte? Ich wollte mit Gremlich reden.
Um elf fing ich an, die Telephonnummern anzurufen, die sich bei den Zuschriften auf Mischkeys Inserat befanden. Ich war Professor Selk von der Universität Hamburg, der den Kontakt
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