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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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die Frage souverän aufgegriffen haben. Jetzt ist’s mir zu souverän, wie Sie über Ihren Sohn reden. Vielleicht bin ich für diese Art Souveränität zu altmodisch.«
    »Souveränität läßt sich nicht teilen. Schade, daß sich Vorurteile immer bestätigen.« Sie nahm ihr Glas und wollte gehen.
    »Sagen Sie mir gerade noch, was Ihnen zu RCW einfällt?« Sie sah mich abweisend an. »Ich verstehe schon, die Frage klingt dumm. Aber die RCW beschäftigen mich derzeit den ganzen Tag, und ich sehe vor lauter Bäumen den Wald nicht.«
    Sie antwortete ernsthaft. »Mir fällt eine Menge dazu ein. Ich will es Ihnen auch sagen, weil mir irgendwas an Ihnen gefallen hat. RCW heißt für mich Rheinische Chemiewerke, Antibabypillen, vergiftete Luft und vergiftetes Wasser, Macht, Korten …«
    »Wieso Korten?«
    »Ich habe ihn massiert. Ich bin nämlich Masseurin.«
    »Masseurin? Ich dachte, das heißt Masseuse?«
    »Die Masseusen sind unsere unkeuschen Schwestern. Korten kam ein halbes Jahr lang mit Rückenproblemen, und er erzählte bei der Massage ein bißchen von sich und seiner Arbeit. Manchmal kamen wir richtig ins Diskutieren. Einmal hat er gesagt ›Verwerflich ist nicht, Leute auszunutzen, es ist nur taktlos, sie dies merken zu lassen.‹ Das hat mich lange beschäftigt.«
    »Korten war mein Freund.«
    »Warum ›war‹? Er lebt doch noch.«
    Ja, warum ›war‹. Hatte ich unsere Freundschaft inzwischen zu Grabe getragen? »Selb, unser Seelchen« – immer wieder war es mir in der Ägäis durch den Kopf gegangen und kalt den Rücken hinuntergefahren. Verschüttete Erinnerungen waren hochgekommen und hatten sich, mit Phantasien vermischt, als Träume in den Schlaf gedrängt. Aus einem Traum war ich mit einem Schrei und im Schweiß aufgewacht: Korten und ich machten eine Bergwanderung durch den Schwarzwald – ich wußte genau, daß es der Schwarzwald war, trotz hoher Felsen und tiefer Schluchten. Wir waren zu dritt, ein Klassenkamerad war dabei, Kimski oder Podel. Der Himmel war tiefblau, die Luft schwer und zugleich von unwirklicher Durchsichtigkeit. Plötzlich brachen Steine ab und polterten lautlos den Abhang hinunter, und wir pendelten an einem Seil, das zerreißen wollte. Über uns war Korten und sah mich an, und ich wußte, was er von mir erwartete. Noch mehr Felsen stürzten stumm ins Tal; ich versuchte mich anzukrallen, das Seil festzumachen und den dritten hochzuziehen. Es gelang mir nicht, mir kamen Tränen der Hilflosigkeit und Verzweiflung. Ich holte das Taschenmesser hervor und begann das Seil unter mir durchzuschneiden. »Ich muß es tun, ich muß«, dachte ich und schnitt. Kimski oder Podel stürzte in die Tiefe. Ich konnte alles zugleich sehen, rudernde Arme, immer kleiner und ferner, Milde und Spott in Kortens Augen, als wäre alles nur ein Spaß. Jetzt konnte er mich hochziehen, und als er mich fast oben hatte, schluchzend und zerkratzt, kam wieder »Selb, unser Seelchen«, und das Seil riß, und …
    »Was ist mit Ihnen los? Wie heißen Sie übrigens? Mein Name ist Brigitte Lauterbach.«
    »Gerhard Selb. Wenn Sie kein Auto dabeihaben – darf ich Sie nach diesem holprigen Abend mit meinem holprigen Opel nach Hause bringen?«
    »Ja, gerne. Ich hätte mir sonst ein Taxi genommen.«
    Brigitte wohnte in der Max-Joseph-Straße. Aus dem Abschiedskuß auf beide Wangen wurde eine lange Umarmung.
    »Magst du noch mit hochkommen, du blöder Typ? Mit einer sterilisierten Rabenmutter?«

8
Ein Blut für alle Tage
    Während sie den Wein aus dem Eisschrank holte, stand ich mit der Unbeholfenheit des ersten Mals in ihrem Wohnzimmer. Man ist noch sensibel für das, was nicht stimmt: die Wellensittiche im Käfig, das Peanuts-Poster an der Wand, Fromm und Simmel im Regal, Roger Whittaker auf dem Plattenteller. Nichts von alledem hatte sich Brigitte zuschulden kommen lassen. Trotzdem war die Sensibilität da – steckt sie am Ende immer nur in einem selbst?
    »Darf ich mal anrufen?« rief ich in die Küche.
    »Nur zu. Das Telephon steht in der obersten Kommodenschublade.«
    Ich zog die Schublade auf und wählte Philipps Nummer. Ich mußte es achtmal klingeln lassen, bis er abnahm.
    »Hallo?« Seine Stimme klang ölig.
    »Philipp, Gerd am Apparat. Ich hoffe, ich störe dich.«
    »Exakt, du komischer Schnüffler, du komischer. Ja, es war Blut, Blutgruppe Null, Rhesusfaktor negativ, ein Blut für alle Tage sozusagen, Alter der Probe zwischen zwei und drei Wochen. Sonst noch was? Entschuldige, ich bin hier voll in Anspruch

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