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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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war im Mozartsaal. Unsere Plätze waren in der sechsten Reihe, seitlich links, so daß uns der Blick auf die Sängerin nicht durch den Dirigenten verstellt war. Beim Hinsetzen warf ich einen Blick in die große Runde. Ein angenehm gemischtes Publikum, von den älteren Damen und Herren bis zu den Kindern, die man eher im Rockkonzert vermuten würde. Babs, Röschen und Georg kamen in ganz alberner Stimmung an; Mutter und Tochter steckten ständig die Köpfe zusammen und kicherten, Georg streckte die Brust raus und plusterte sich. Ich setzte mich zwischen Babs und Röschen, tätschelte der einen das linke und der anderen das rechte Knie.
    »Ich dachte, du bringst dir selber eine Frau zum Tätscheln mit, Onkel Gerd.« Röschen nahm meine Hand mit spitzen Fingern und ließ sie neben ihrem Knie fallen. Sie trug einen schwarzen, die Finger freilassenden Spitzenhandschuh. Die Geste war vernichtend.
    »Ach, Röschen, Röschen, als ich dich kleines Mädchen damals vor den Indianern gerettet habe, auf meinem linken Arm, den Colt in der Rechten, hast du nicht so mit mir geredet.«
    »Es gibt keine Indianer mehr, Onkel Gerd.«
    Was war aus dem lieben Mädchen geworden? Ich guckte sie von der Seite an, die postmoderne Brikettfrisur, die silberne geballte Faust mit dem beredten Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger am Ohr, das flächige Gesicht, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte, und der etwas zu kleine, immer noch kindliche Mund.
    Der Dirigent war ein schmieriger Mafioso von kleinem Wuchs und großer Fettleibigkeit. Er neigte seinen ondulierten Kopf vor uns und trieb das Orchester in ein Orchesterpotpourri von ›Gianni Schicchi‹ Er war gut, der Mann. Mit den sparsamen Bewegungen seines zierlichen Stocks zauberte er aus dem gewaltigen Orchester den zartesten Wohlklang.
    Ich mußte ihm auch zugute halten, daß er an die Kesselpauken eine befrackte und behoste allerliebste kleine Paukistin gesetzt hatte. Ob ich nach dem Konzert am Orchesterausgang auf sie warten und anbieten könnte, ihr beim Nachhausetragen der Kesselpauken behilflich zu sein?
    Dann trat Wilhelmenia auf. Sie war seit ›Diva‹ etwas fülliger geworden, aber berückend im straßbesetzten glitzernden Abendkleid. Am besten war die Wally. Mit ihr schloß das Konzert, mit ihr eroberte sich die Diva das Publikum. Es war schön, jung und alt im Beifall vereint zu sehen. Nach zwei hart erkämpften Zugaben, in denen die kleine Paukistin mein Herz noch einmal virtuos zum Wirbeln brachte, traten wir beschwingt in die Nacht hinaus. »Gehen wir noch wohin?« fragte Georg.
    »Wenn ihr wollt, zu mir. Ich habe Schnecken vorbereitet und Riesling kalt gestellt.«
    Babs strahlte, Röschen maulte: »Müssen wir da hinlaufen?«, und Georg sagte: »Ich lauf mit Onkel Gerd, ihr könnt ja mit dem Auto kommen.«
    Georg ist ein ernsthafter junger Mann. Auf dem Weg erzählte er von seinem Jurastudium, das ins fünfte Semester ging, von großen und kleinen Scheinen und vom Strafrechtsfall, an dem er gerade saß. Umweltschutzstrafrecht – das klang interessant, war aber doch nur die beliebige Einkleidung für Probleme von Täterschaft, Anstiftung und Beihilfe, die ich vor mehr als vierzig Jahren genauso hätte gestellt bekommen können. Sind die Juristen so phantasielos, oder ist’s die Wirklichkeit?
    Babs und Röschen warteten vor der Haustür. Als ich aufgeschlossen hatte, zeigte sich, daß die Treppenhausbeleuchtung ausgefallen war. Wir tasteten uns hoch, mit viel Stolpern und Lachen, und Röschen hatte ein bißchen Angst im Dunkeln und war angenehm kleinlaut.
    Es wurde ein netter Abend. Die Schnecken waren gut und ebenso der Wein. Mein Auftritt war ein voller Erfolg. Als ich das Kassettengerät, mit dem ich über ein kleines, am Revers verstecktes Mikrophon ziemlich gute Aufnahmen machen kann, aus der Innentasche holte, aufklappte und die Kassette in das Deck meiner Anlage schob, erkannte Röschen das Zitat sofort und klatschte in die Hände. Georg begriff, als die Wally ertönte. Babs sah uns fragend an. »Mama, du mußt dir die ›Diva‹ anschauen, wenn sie wieder läuft.«
    Wir spielten Hase und Igel, und um halb eins war das Spiel in seiner entscheidenden Phase und der Riesling alle. Ich nahm meine Taschenlampe und ging in den Keller. Ich erinnere mich nicht, davor je ohne Licht das große Treppenhaus hinuntergestiegen zu sein. Aber meine Beine hatten sich in den vielen Jahren den Weg so gemerkt, daß ich mich ganz sicher fühlte. Bis ich auf den vorletzten Treppenabsatz

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