Selbs Justiz
wohl das große Werk, für das Fred einmal gearbeitet hatte. Hatte Fred auf dem Ehrenfriedhof für sie zugeschlagen? Dann hatte ich noch die Blutspuren an der rechten Seite von Mischkeys Kabriolett. Schließlich das Gefühl, daß was nicht stimmte, und die vielen Gedankensplitter der letzten Tage. Judith, Mischkey und ein eifersüchtiger, verschmähter Rivale? Ein anderer Computereinbruch von Mischkey mit tödlichem Gegenschlag? Ein Unfall unter Beteiligung des Lieferwagens, dessen Fahrer Fahrerflucht begeht? Ich dachte an die zwei Schläge – ein Unfall, in den noch ein drittes Fahrzeug verwickelt ist? Selbstmord von Mischkey, dem alles über den Kopf wächst?
Ich brauchte lange, bis ich diese Unfertigkeiten in einen Schlußbericht umgesetzt hatte. Fast ebenso lange saß ich über der Frage, ob ich Judith eine Rechnung und was ich in diese schreiben sollte. Ich rundete auf tausend Mark ab und schlug die Mehrwertsteuer wieder drauf. Als ich auch den Umschlag getippt, frankiert und Brief und Rechnung darin verschlossen hatte, schon in den Mantel geschlüpft war und zum Briefkasten gehen wollte, setzte ich mich noch mal hin und schenkte mir einen Sambuca mit drei Mücken ein.
Es war alles beschissen gelaufen. Ich würde den Fall vermissen, der mich mehr gepackt hatte, als meine Arbeit dies sonst tut. Ich würde Judith vermissen. Warum sollte ich’s mir nicht eingestehen.
Als der Brief im Kasten lag, ging ich an den Fall Sergej Mencke. Ich rief im Nationaltheater an und vereinbarte einen Termin mit dem Chef des Balletts. Ich schrieb an die Vereinigten Heidelberger Versicherungen und fragte, ob sie die Kosten einer Reise nach den USA übernehmen wollten. Die beiden besten Freunde und Kollegen meines selbstverstümmelten Ballettänzers, Joschka und Hanne, hatten für die neue Saison Engagements in Pittsburgh, Pennsylvania, angenommen und waren dorthin abgereist, und ich war noch nie in den USA gewesen. Ich fand raus, daß die Eltern von Sergej Mencke in Tauberbischofsheim wohnten. Der Vater war dort Hauptmann. Die Mutter sagte am Telephon, ich könne über Mittag vorbeikommen. Hauptmann Mencke war Heimesser. Ich telephonierte mit Philipp und fragte ihn, ob in den Annalen des Beinbruchs der Selbstbrecher und der Bruch durch zuschlagende Autotür verzeichnet seien. Er bot an, das Problem seiner Famula als Thema ihrer Dissertation vorzulegen. »Reicht dir das Ergebnis in drei Wochen?« Es reichte.
Dann machte ich mich auf den Weg nach Tauberbischofsheim. Ich hatte noch genug Zeit, um gemächlich durchs Neckartal zu fahren und in Amorbach Kaffee zu trinken. Vor dem Schloß lärmte eine Schulklasse, die auf die Führung wartete. Ob man Kindern den Sinn für das Schöne wirklich beibringen kann?
Herr Mencke war ein kühner Mann. Er hatte sich ein Eigenheim gebaut, obwohl er damit rechnen mußte, versetzt zu werden. Er öffnete in Uniform. »Kommen Sie doch rein, Herr Selb. Viel Zeit habe ich allerdings nicht, ich muß gleich wieder rüber.« Wir setzten uns ins Wohnzimmer. Es wurde Jägermeister angeboten, aber keiner trank.
Sergej hieß eigentlich Siegfried und hatte das Elternhaus zum Kummer seiner Mutter schon mit sechzehn verlassen. Vater und Sohn hatten miteinander gebrochen. Dem sportlichen Sohn war nicht verziehen worden, daß er sich mit einem fingierten Wirbelsäulenschaden um die Bundeswehr gedrückt hatte. Auch sein Weg zum Ballett war auf Mißbilligung gestoßen. »Vielleicht hat es auch sein Gutes, daß er jetzt nicht mehr tanzen kann«, meinte die Mutter. »Als ich ihn im Krankenhaus besucht habe, war er wieder ganz mein Sigi.«
Ich fragte, wie Siegfried sich seitdem finanziell durchgeschlagen hatte. Da waren anscheinend immer irgendwelche Freunde oder auch Freundinnen gewesen, die ihn unterstützten. Herr Mencke schenkte sich nun doch einen Jägermeister ein.
»Ich hätte ihm gerne was zugesteckt, von der Erbschaft von Omi. Aber du wolltest ja nicht.« Sie wandte sich vorwurfsvoll an ihren Mann. »Du hast ihn in alles nur immer tiefer reingetrieben.«
»Laß doch, Ella. Das interessiert den Herrn von der Versicherung nicht. Ich muß jetzt auch wieder in den Dienst. Kommen Sie, Herr Selb, ich bringe Sie nach draußen.« Er stand in der Tür und sah mir nach, bis ich mit dem Auto weggefahren war.
Auf der Rückfahrt kehrte ich in Adelsheim ein. Das Gasthaus war voll; ein paar Geschäftsleute, Lehrer vom Internat und an einem Tisch drei Herren, bei denen ich den Eindruck hatte, es handle sich um Richter,
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