Selbs Justiz
war bereit, den Kontakt mit Frau Hirsch herzustellen. Aber sie wollte ihrer Freundin keine unnötige Aufregung zumuten und den Kontakt nur herstellen, wenn das Forschungsprojekt sowohl wissenschaftlich solide als auch unter dem Aspekt der Bewältigung der Vergangenheit fruchtbar war. Sie bat um entsprechende Erläuterungen. Es war der Brief einer gebildeten Dame, in schönem, altertümlich anmutendem Deutsch gehalten und in steiler, strenger Schrift geschrieben. Ich sehe in Heidelberg im Sommer manchmal ältere amerikanische Touristinnen mit blauem Ton im weißen Haar, rosarotem Brillenrahmen und grellem Make-up auf der faltigen Haut. Mich hat dieser Mut, sich als Karikatur zu präsentieren, als Ausdruck kultureller Verzweiflung stets befremdet. Bei der Lektüre von Vera Müllers Brief konnte ich mir eine solche ältere Dame auf einmal interessant und faszinierend vorstellen und in ihrer kulturellen Verzweiflung die weise Müdigkeit ganz vergessener Völker entdecken. Ich schrieb ihr, daß ich versuchen wolle, sie demnächst aufzusuchen.
Ich rief bei den Vereinigten Heidelberger Versicherungen an. Ich machte deutlich, daß ich ohne Amerikareise nur noch den Abschlußbericht schreiben und die Rechnung stellen könne. Eine Stunde später rief mich der Sachbearbeiter an und sagte, ich solle fahren.
Also war ich wieder beim Fall Mischkey. Ich wußte nicht, was ich noch rausfinden konnte. Aber da war diese Spur, die sich damals verloren hatte und jetzt wieder auftat. Und mit dem grünen Licht der Vereinigten Heidelberger Versicherungen konnte ich ihr so mühelos nachgehen, daß ich mir keine großen Gedanken machen mußte, warum und zu welchem Ende.
Es war nachmittags 15 Uhr, und ich stellte anhand meines Taschenkalenders fest, daß es in Pittsburgh 9 Uhr war. Ich hatte beim Ballettmeister erfahren, daß Sergej Menckes Freunde beim Pittsburgh State Ballet arbeiteten, und die Fernsprechauskunft Ausland gab mir dessen Telephonnummer.
Das Mädchen von der Post war munter. »Sie wollen die Kleine von ›Flashdance‹ anrufen?« Ich kannte den Film nicht. »Ist der Film was? Sollte ich ihn mir noch anschauen?« Sie war dreimal drin gewesen. Das Ferngespräch nach Pittsburgh war mit meinem schlechten Englisch eine Qual. Immerhin brachte ich bei der Sekretärin des Balletts in Erfahrung, daß die beiden Tänzer den Dezember über in Pittsburgh sein würden.
Mit meinem Reisebüro verständigte ich mich dahin, daß ich die Rechnung für einen Lufthansaflug Frankfurt-Pittsburgh bekam, daß mir aber ein Billigflug von Brüssel nach San Francisco mit Zwischenlandung in New York und Abstecher nach Pittsburgh gebucht wurde. Anfang Dezember war nicht viel los über dem Atlantik. Ich bekam einen Flug für Donnerstag morgen.
Gegen Abend rief ich Vera Müller in San Francisco an. Ich sagte ihr, daß ich ihr geschrieben hätte, daß sich aber ganz plötzlich die günstige Gelegenheit eines Aufenthalts in den USA ergeben hätte und daß ich am Wochenende in San Francisco sei. Sie sagte, sie würde mich bei Frau Hirsch anmelden, sei selbst am Wochenende weg und würde sich freuen, mich am Montag zu sehen. Ich notierte die Adresse von Frau Hirsch: 410 Connecticut Street, Potrero Hill.
2
Mit einem Knacken war das Bild da
Aus alten Filmen hatte ich Bilder im Kopf, wie Schiffe nach New York einlaufen, an der Freiheitsstatue vorbei und an den Wolkenkratzern entlang, und ich hatte mir vorgestellt, dasselbe statt vom Deck eines Dampfers durch das kleine Fenster zu meiner Linken sehen zu können. Aber der Flugplatz liegt weit vor der Stadt, war kalt und schmutzig, und ich war froh, als ich umgestiegen war und im Flugzeug nach San Francisco saß. Die Sitzreihen standen so eng, daß es in ihnen nur bei geneigter Rückenlehne auszuhalten war. Während des Essens mußte die Lehne geradegestellt werden, und vermutlich servierte die Fluggesellschaft das Essen auch nur, damit man anschließend froh war, sich wieder zurücklehnen zu können.
Ich kam um Mitternacht an. Ein Taxi brachte mich über eine achtspurige Autobahn in die Stadt und in ein Hotel. Mir war elend vom Sturm, durch den das Flugzeug geflogen war. Der Hoteldiener, der mir den Koffer ins Zimmer trug, schaltete den Fernsehapparat ein, mit einem Knacken war das Bild da. Ein Mann redete mit obszöner Aufdringlichkeit. Später merkte ich, daß es ein Prediger war.
Am nächsten Morgen rief mir der Portier ein Taxi, und ich trat auf die Straße. Das Fenster meines Zimmers ging auf die Wand
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