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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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Aussage vor mir gemacht hatte. Ich konnte ihr auch nicht sagen, warum es für mich so wichtig war. Aber ich mußte es wissen. Und so fragte ich: »Sind Sie sicher, daß Ihr Mann damals eine falsche Aussage gemacht hat?«
    »Ich verstehe nicht, ich habe Ihnen berichtet, was er mir erzählt hat.« Sie wurde abweisend. »Gehen Sie«, sagte sie, »gehen Sie.«

3
Do not disturb
    Ich ging den Hügel hinunter und gelangte in die Docks und Lagerhallen an der Bay. Weit und breit sah ich weder Taxi noch Bus, noch U-Bahnstation. Ich wußte nicht einmal, ob es in San Francisco eine U-Bahn gab. Ich schlug die Richtung ein, in der ich die Hochhäuser sah. Die Straße hatte keinen Namen, nur eine Nummer. Vor mir her fuhr langsam ein schwerer schwarzer Cadillac. Alle paar Schritte hielt er an, ein Schwarzer in pinkfarbenem Seidenanzug stieg aus, trat eine Bier- oder Coladose platt und ließ sie in einem großen blauen Plastiksack verschwinden. Einige hundert Meter voraus sah ich ein Geschäft. Als ich näher kam, erkannte ich, daß es festungsartig vergittert war. Ich ging hinein auf der Suche nach einem Sandwich und einem Päckchen Sweet Afton. Die Waren lagen hinter Gittern, die Kasse erinnerte mich an einen Bankschalter. Ich bekam kein Sandwich, und niemand wußte, was Sweet Afton war, und ich fühlte mich schuldig, obwohl ich nichts getan hatte. Als ich das Geschäft mit einer Stange Chesterfield verließ, fuhr mitten auf der Straße ein Güterzug an mir vorbei.
    An den Piers fand ich eine Autovermietung und mietete einen Chevrolet. Die durchgehende Vorderbank hatte es mir angetan. Sie erinnerte mich an den Horch, auf dessen Vorderbank mich die Frau meines Lateinlehrers in die Liebe eingeführt hatte. Zum Auto bekam ich einen Stadtplan mit eingezeichnetem 49 Mile Drive. Ich folgte ihm mühelos dank der überall angebrachten Markierungen. Bei den Klippen fand ich ein Restaurant. Am Eingang mußte ich in einer Schlange vorrücken, bis ich zu einem Platz am Fenster geführt wurde.
    Über dem Pazifik hob sich der Nebel. Das Schauspiel fesselte mich, als könnte hinter dem zerreißenden Nebel augenblicklich Japans Küste sichtbar werden. Ich aß ein Thunfischsteak, Kartoffel in Aluminiumfolie und Eisbergsalat. Das Bier hieß Anchor Steam und schmeckte fast wie das Rauchbier im Bamberger Schlenkerla. Die Bedienung war aufmerksam, füllte immer wieder unaufgefordert meine Kaffeetasse auf und erkundigte sich nach meinem Befinden und wo ich herkomme. Auch sie kannte Deutschland; sie hatte einmal ihren Freund in Baumholder besucht.
    Nach dem Essen vertrat ich mir die Beine, kletterte in den Klippen herum und sah plötzlich, schöner, als ich sie aus Filmen in Erinnerung hatte, die Golden Gate Bridge vor mir. Ich zog meinen Mantel aus, faltete ihn zusammen, legte ihn auf einen Stein und setzte mich drauf. Die Küste fiel steil ab, unter mir kreuzten bunte Segelboote, und ein Frachter zog seine ruhige Bahn.
    Ich hatte geplant, in Frieden mit meiner Vergangenheit zu leben. Schuld, Sühne, Enthusiasmus und Blindheit, Stolz und Zorn, Moral und Resignation – das alles hatte ich in ein kunstvolles Gleichgewicht gebracht. Die Vergangenheit war darüber zur Abstraktion geraten. Nun hatte die Realität mich eingeholt und gefährdete das Gleichgewicht. Natürlich hatte ich mich als Staatsanwalt mißbrauchen lassen, das hatte ich nach dem Zusammenbruch gelernt. Man mag sich fragen, ob es besseren und schlechteren Mißbrauch gibt. Dennoch war es für mich auf Anhieb nicht das gleiche, ob ich im Dienst einer vermeintlich großen, schlechten Sache schuldig geworden war oder ob man mich als dummen Bauern, meinethalben auch Offizier, benutzt hatte auf dem Schachbrett einer kleinen, schäbigen Intrige, die ich noch nicht verstand.
    Worauf genau lief das hinaus, was Frau Hirsch mir erzählt hatte? Tyberg und Dohmke, gegen die ich damals ermittelt hatte, waren nur aufgrund der Falschaussage Weinsteins überführt worden. Nach jedem, selbst nach nationalsozialistischem Maßstab war das Urteil ein Fehlurteil, und meine Ermittlungen waren Fehlermittlungen. Ich war einem Komplott aufgesessen, dem Tyberg und Dohmke zum Opfer fallen mußten. Meine Erinnerungen wurden deutlicher. In Tybergs Schreibtisch waren versteckte Unterlagen gefunden worden, die ein erfolgversprechendes, kriegswichtiges Vorhaben dokumentierten, das von Tyberg und seiner Forschungsgruppe zunächst vorangetrieben, dann aber augenscheinlich abgebrochen worden war. Die Angeklagten hatten vor

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