Selbs Justiz
erklären, daß ich niemanden entschuldigen wollte, aber die Ermittlungen einfach nicht mehr weitertreiben konnte.
»Du bist auch so ein Irgendwer, der für die Mächtigen die Drecksarbeit erledigt. Laß mich jetzt, ich finde allein zurück.«
Ich unterdrückte meinen Impuls, sie stehenzulassen, und sagte statt dessen: »Das ist schon verrückt. Da wirft die Sekretärin des Direktors von RCW dem Detektiv, der für die RCW einen Auftrag erledigt hat, vor, er arbeite für die RCW . Was für ein Hochmut.«
Wir gingen weiter. Nach einer Weile hängte sie ihren Arm bei mir ein. »Früher, wenn etwas Schlimmes passiert ist, hatte ich immer das Gefühl, daß es wieder wird. Das Leben, meine ich. Sogar nach meiner Scheidung. Jetzt weiß ich, daß es nie mehr werden wird, wie es war. Kennst du das?«
Ich nickte.
»Du, es tut mir wirklich am besten, hier noch ein bißchen allein zu laufen. Fahr ruhig. Du mußt nicht so besorgt gucken, ich mache schon keine Dummheiten.«
Von der Rheinkaistraße sah ich noch mal zurück. Sie war noch nicht weitergegangen. Sie sah zu den RCW auf das planierte Gelände des alten Werks. Der Wind trieb einen leeren Zementsack über die Straße.
DRITTER TEIL
1
Ein Meilenstein in der Rechtsprechung
N
ach einem langen, goldenen Altweibersommer brach der Winter schroff herein. Ich kann mich an keinen kälteren November erinnern.
Ich habe nicht viel gearbeitet damals. Die Ermittlungen in Sachen Sergej Mencke gingen schleppend voran. Die Versicherung zierte sich, mich nach Amerika zu schicken. Das Treffen mit dem Ballettmeister hatte am Rand der Probe stattgefunden und mich über indische Tänze, die gerade einstudiert wurden, belehrt, mir sonst aber nur gezeigt, daß einige Sergej mochten, andere nicht, und daß der Ballettmeister zu letzteren gehörte. Zwei Wochen plagte mich mein Rheuma so, daß ich über die Anstrengungen des täglichen Bedarfs hinaus zu nichts in der Lage war. Sonst ging ich viel spazieren, oft in die Sauna und ins Kino, las den ›Grünen Heinrich‹ zu Ende, der im Sommer liegengeblieben war, und hörte Turbos Winterfell wachsen. Eines Samstags traf ich auf dem Markt Judith. Sie arbeitete nicht mehr bei den RCW , lebte von ihrem Arbeitslosengeld und half bei der Frauenbuchhandlung ›Xanthippe‹ aus. Wir versprachen, uns zu treffen, aber weder sie noch ich machten den ersten Schritt. Mit Eberhard spielte ich die Partien der Weltmeisterschaft zwischen Karpow und Kasparow nach. Als wir über der letzten Partie saßen, rief Brigitte aus Rio an. Es summte und rauschte in der Leitung, ich verstand sie kaum. Ich glaube, sie sagte, daß sie mich vermisse. Ich konnte damit nichts anfangen.
Der Dezember begann mit unerwarteten Föhntagen. Am 2. Dezember verkündete das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit der von Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz eingeführten direkten Emissionsdatenerfassung.
Es rügte die Verletzung der betrieblichen informationellen Selbstbestimmung und des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, ließ die Regelung aber letztlich an Kompetenzfragen scheitern. Der bekannte Leitartikler der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹ feierte die Entscheidung als Meilenstein der Rechtsprechung, weil der Datenschutz endlich die Fesseln des bloßen Bürgerschutzes gesprengt und die Dimension des Unternehmensschutzes erobert habe. Erst jetzt offenbare das Urteil zur Volkszählung seine reife Größe.
Ich wunderte mich, was aus Gremlichs lukrativer Nebentätigkeit werden würde. Würden die RCW ihn gewissermaßen als Schläfer weiter honorieren? Ich fragte mich auch, ob Judith die Meldung aus Karlsruhe lesen und was ihr dabei durch den Kopf gehen würde. Diese Entscheidung ein halbes Jahr früher, und es hätte keinen Clinch zwischen Mischkey und den RCW gegeben.
Am selben Tag fand ich in der Post einen Brief aus San Francisco. Vera Müller war alte Mannheimerin, 1936 in die USA emigriert und hatte an verschiedenen kalifornischen Colleges europäische Literatur gelehrt. Seit einigen Jahren lebte sie im Ruhestand und las aus Nostalgie den ›Mannheimer Morgen‹. Sie hatte sich schon gewundert, auf ihr erstes Schreiben an Mischkey nichts gehört zu haben. Auf das Inserat hatte sie reagiert, weil das Schicksal ihrer jüdischen Freundin im Dritten Reich auf traurige Weise mit den RCW verflochten war. Sie meinte, es handle sich um einen Abschnitt der jüngsten Geschichte, über den mehr geforscht und veröffentlicht werden solle, und
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