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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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eines Nachbarhauses, und der Morgen im Zimmer war grau und leise gewesen. Jetzt explodierten die Farben und Geräusche der Stadt um mich herum unter einem klaren blauen Himmel. Die Fahrt über die Hügel der Stadt, auf Straßen, die schnurgerade hochführen und runterstoßen, das schmatzende Stoßen der ausgeleierten Federn des Taxis, wenn wir dabei eine Querstraße überfuhren, die Ausblicke auf Hochhäuser, Brücken und eine große Bucht machten mich wie betrunken. Das Haus lag in einer ruhigen Straße. Es war wie alle Häuser drum herum aus Holz. Zum Eingang führte eine Treppe. Ich ging hoch und klingelte. Mir öffnete ein Greis. »Mister Hirsch?«
    »Mein Mann ist seit sechs Jahren tot. Du mußt nicht entschuldigen, ich werde oft für einen Mann genommen und bin daran gewöhnt. Du bist doch der Deutsche, von dem mir Vera erzählt hat, nicht wahr?«
    Vielleicht war es die Verwirrung oder der Flug oder die Fahrt mit dem Taxi – ich muß ohnmächtig geworden sein und kam zu mir, als die alte Frau mir ein Glas Wasser ins Gesicht schüttete.
    »Du warst glücklich, daß du nicht die Treppe runtergefallen bist. Wenn du kannst, komm in mein Haus, und ich gebe dir einen Whisky.«
    Er brannte in mir. Das Zimmer war muffig und roch nach Alter, nach altem Körper und nach altem Essen. Bei meinen Großeltern hatte derselbe Geruch gestanden, fiel mir plötzlich ein, und ebenso plötzlich packte mich die Angst vor dem Altwerden, die ich immer wieder verdränge.
    Die Frau saß mir gegenüber und musterte mich. Das Sonnenlicht fiel durch die Jalousien in Streifen auf sie. Sie war ganz kahl. »Du willst mit mir über Karl Weinstein reden, meinen Mann. Vera meinte, es sei wichtig, daß erzählt wird, was damals gewesen ist. Aber es ist keine gute Geschichte. Mein Mann hat versucht, sie zu vergessen.«
    Ich merkte nicht gleich, wer Karl Weinstein war. Aber als sie zu erzählen begann, erinnerte ich mich. Sie wußte nicht, daß sie nicht nur seine Geschichte erzählte, sondern auch meine Vergangenheit berührte.
    Sie redete mit seltsam eintöniger Stimme. Weinstein war bis 1933 Professor für organische Chemie in Breslau gewesen. 1941, als er ins KZ kam, forderte sein ehemaliger Assistent Tyberg ihn für die Labors der RCW an und bekam ihn zugeteilt. Weinstein war sogar ganz zufrieden, daß er wieder auf seinem Gebiet arbeiten konnte und daß er mit jemandem zu tun hatte, der ihn als Wissenschaftler schätzte, mit ›Herr Professor‹ anredete und am Abend höflich verabschiedete, ehe er mit den anderen Zwangsarbeitern im Werk ins Barackenlager verbracht wurde. »Mein Mann war nicht sehr lebenstüchtig und auch nicht sehr tapfer. Er hatte keine Idee oder wollte keine haben, was um ihn passierte und ihm selbst bevorstand.«
    »Haben Sie die Zeit damals bei den RCW miterlebt?«
    »Ich habe Karl auf dem Transport nach Auschwitz getroffen, 1941. Und dann erst wieder nach dem Krieg. Ich bin Flämin, du weißt, und konnte mich zuerst in Brüssel verbergen, bis sie mich gefaßt haben. Ich war eine schöne Frau. Man hat medizinische Versuche mit meiner Kopfhaut gemacht. Ich denke, es hat mein Leben gerettet. Aber 1945 war ich alt und kahl. Ich war dreiundzwanzig.«
    Eines Tages waren sie zu Weinstein gekommen, einer vom Werk und einer von der SS . Sie hatten ihm gesagt, was er vor Polizei, Staatsanwalt und Richter aussagen müsse. Es ging um Sabotage, ein Manuskript, das er in Tybergs Schreibtisch gefunden, ein Gespräch zwischen Tyberg und einem Mitarbeiter, das er belauscht haben sollte.
    Ich sah wieder vor mir, wie Karl Weinstein damals in mein Dienstzimmer geführt wurde, in seiner Häftlingskleidung, und seine Aussage machte.
    »Er hat zunächst nicht wollen. Es war alles falsch, und Tyberg war nicht schlecht zu ihm gewesen. Aber sie zeigten ihm, daß sie ihn zertreten würden. Sie haben ihm dafür nicht einmal das Leben versprochen, sondern nur, daß er noch ein bißchen überleben kann. Kannst du dir das vorstellen? Dann wurde mein Mann verlegt und im anderen Lager einfach vergessen. Wir hatten ausgemacht, wo wir uns treffen, im Fall einmal alles vorbei ist. In Brüssel, auf der Grand’Place. Ich bin dann nur bei Zufall dort gekommen, im Frühjahr 1946, hatte gar nicht mehr gedacht von ihm. Er hatte seit dem Sommer 1945 dort für mich gewartet. Er hat mich sofort erkannt, obwohl ich die kahle, alte Frau geworden war. Wer kann so etwas widerstehen?« Sie lachte.
    Ich brachte es nicht fertig, ihr zu sagen, daß Weinstein seine

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