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Selbs Mord

Selbs Mord

Titel: Selbs Mord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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rief ich, und er wandte sich um und winkte. Er winkte, als wolle er mich vom Bürgersteig verscheuchen, als solle ich wieder zurück in mein Büro gehen. Ich verstand nicht, und obwohl er Grimassen machte, als rufe er mir etwas zu, hörte ich auch nichts. Er kam auf mich zu, schwankenden Schritts, mit der Rechten weiter fuchtelnd und die Linke vor den Bauch gepreßt. Ich erkannte, daß er mit der Linken den Griff eines schwarzen Aktenkoffers hielt, der ihm beim Gehen an die Beine schlug. Ich machte ein paar Schritte auf ihn zu, er fiel gegen mich, ich roch seinen schlechten Geruch, hörte ihn »hier« und »weg« flüstern, bekam den Aktenkoffer hingehalten und griff zu. Mit der Hand, mit der er mir den Aktenkoffer gegeben hatte, stützte er sich auf mich und richtete sich an mir auf; er ging zum Auto, setzte sich hinein, machte die Tür zu und fuhr los.
    Er fuhr in langer schräger Linie vom Straßenrand auf die rechte Fahrspur und von der rechten Fahrspur auf die linke, steuerte auf die eisernen Poller zu, die die Grünanlage in der Mitte der Augustaanlage begrenzen, schrammte einen, schrammte den nächsten, schrammte die Ampel vor der Mollstraße, wurde schneller und kümmerte sich nicht darum, daß die Ampel rot war, nicht um die Autos, die gerade in der Mollstraße losfuhren, und nicht um die Kinder, die gerade die Augustaanlage überqueren wollten. Zuerst sah es aus, als werde er entweder auf die Ampel oder auf den Baum an der Ecke der Grünanlage hinter der Mollstraße prallen. Aber er nahm den Bordstein, mied die Ampel und streifte nur leicht den Baum. Bordstein und Baum waren allerdings genug, die Isetta in Schieflage zu bringen und umzuwerfen; sie rutschte auf der Seite durch das Gras und knallte gegen einen Baum.
    Der Knall war laut, und im selben Augenblick quietschten auf der Gegenfahrbahn, auf die der Wagen beinahe geraten war, die Bremsen, hupten die Autos, denen er die Vorfahrt genommen hatte, und schrie ein Kind, dem er fast über die Füße gefahren war. Es war die Hölle los. Mein türkischer Nachbar, der aus seinem Geschäft geeilt war, nahm mir den Koffer aus der Hand und sagte: »Schauen Sie nach, ich rufe die Polizei und den Krankenwagen.« Ich rannte los, aber so schnell bin ich nicht mehr, und als ich dort war, standen schon die Neugierigen um die Isetta. Ich drängte mich vor. Der Baum hatte die Tür eingedrückt und stand zwischen Dach und Boden. Ich sah durch das Seitenfenster von oben ins Innere; es war voll von Glas und Blut, das eingedrückte Türblech hatte Schuler an den Sitz geklemmt, und das Lenkrad hatte sich in seinen Brustkorb geschoben. Er war tot.
    Dann kamen Polizei und Krankenwagen und, weil sich die Isetta nicht vom Baum trennen ließ, die Feuerwehr. Die Polizei machte keine Anstalten, mich als Zeugen zu vernehmen, und ich ergriff keine Initiative, mich als Zeugen zu präsentieren. Ich ging zurück zu meinem Büro, das ich hatte offenstehen lassen. Von weitem sah ich, daß gerade jemand mein Büro verließ. Ich wußte nicht, was er darin zu suchen hatte, ich wußte nicht, was er darin gesucht hatte. Es fehlte nichts. Das Geschäft meines türkischen Nachbarn erlebte einen kleinen Boom; die Neugierigen sahen den Arbeiten an Schulers Isetta zu, machten fachmännische Kommentare und kauften Schokoladen-, Milch- und Müsliriegel.
    Erst als alles vorbei und wieder ruhig war, dachte ich an Schulers Koffer. Ich holte ihn nebenan, stellte ihn auf den Schreibtisch und betrachtete ihn. Schwarzes, mattes Kunstleder, goldfarbenes Nummernschloß – ein normaler, häßlicher Aktenkoffer. Ich nahm die Flasche und die Kaffeedose aus dem Schreibtisch, schenkte mir einen Sambuca ein und tat drei Bohnen dazu. Ich fand ein Päckchen Sweet Afton im Aktenschrank, zündete beides an, Sambuca und Zigarette, und sah den blauen Flammen und dem blauen Rauch zu.
    Ich dachte an Schuler. Ich hätte ihn gern noch mal Geschichten erzählen hören. Warum sich Leutnant Welker und der Preuße in die Haare geraten waren. Was aus der jungen Weller geworden war, nachdem ihr Schatz sich zu Tode gebracht hatte, fast wie Romeo, nur waren hier die Familien nicht zu verfeindet, sondern zu befreundet. Wann Bertram und Stephanie sich ineinander verliebt hatten. Ich blies die Flamme aus und trank. Ich hätte Schuler gewünscht, daß er vor seinem Tod noch mal hätte riechen und schmecken können.
    Dann machte ich den Koffer auf. Er war randvoll mit Geld, gebrauchten Fünfzig- und

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