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Selbs Mord

Selbs Mord

Titel: Selbs Mord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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umzubuchen oder auch verfallen zu lassen und am gleichen Tag den Zug zu nehmen, quartierte ich mich noch mal Unter den Linden ein, lief noch mal durch Berlin und landete noch mal am Halleschen Tor. Wonach habe ich gesucht? Ja, ich war auch noch in der Straße, in der ich aufgewachsen bin. Der Hydrant, an dem ich mit dem großen Schwengel Wasser pumpte, nur so, mochte derselbe sein, an dem ich schon als Kind Wasser gepumpt habe. Sicher war ich nicht.
    Am Halleschen Tor waren es diesmal die anderen. Schwarze Hosen und Jacken und ein paar Mädchen in schwarzem Schlabberzeug. Ich erkannte sie nicht wieder. Aber sie erkannten mich. »Das ist doch der Alte, der neulich ›Heil Hitler‹ gebrüllt hat. Alter Nazi, was?«
    Ich sagte nichts. Hatten sie nicht gesehen, daß ich nicht freiwillig mitgemacht hatte und am Ende im Kanal gelandet war? Weil die U-Bahn eingefahren war?
    Sie kamen näher und drängten mich ans Geländer. Was für Kindergesichter, dachte ich, was für eifrige, dumme Kindergesichter. Außerdem dachte ich, daß ich für das »Heil Hitler« vor zwei Tagen genug bestraft worden war. Für die »Heil Hitler« vor vielen Jahren und für das Unheil, das ich als Staatsanwalt damals angerichtet hatte – vielleicht verdiente ich dafür mehr Strafe. Aber nicht von diesen Kindern.
    »Lassen Sie mich bitte durch.«
    »Wir sind die Antifa!« Auch sie hatten einen Wortführer, einen langen, dünnen Kerl mit Brille. Als ich mich zwischen ihnen durchschlängeln wollte, hielt er mir die Hand auf die Brust. »Wir mögen keine Faschisten in unserer Stadt.«
    »Gibt es nicht genug Junge, denen Sie’s zeigen können?«
    »Eines nach dem anderen. Vor den Jungen kommen die Alten.« Er hielt mir weiter die Hand vor die Brust.
    Da habe ich die Beherrschung verloren. Ich schlug seine Hand weg und gab ihm zwei Ohrfeigen in sein dummes Gesicht, eine links und eine rechts. Er ging auf mich los, drückte mich gegen und über das Geländer. Kein »eins und zwei und drei«, die anderen halfen stumm und verbissen, ich wehrte mich stumm und verbissen, bis ich kopfüber hing. Ich fiel und platschte ins Wasser.
    Als ich am Straßenrand stand, fuhr eine Taxe nach der anderen zunächst langsam, wenn der Fahrer mich winken sah, und dann, wenn er meine nassen Sachen sah, schnell weiter. Der Polizeiwagen machte es genauso. Schließlich erbarmte sich eine junge Frau, lud mich ein und setzte mich vor dem Hotel ab. Der Portier, der vor zwei Abenden Dienst gehabt hatte, hatte wieder Dienst, erkannte mich und lachte laut heraus. Ich fand es nicht komisch.

22 Der alte Zirkusgaul
    Der Abschied von Berlin fiel mir nicht schwer. Als das Flugzeug am Samstag morgen in großem Bogen über die Stadt flog, sah ich hinunter. Viel Wasser, viel Grün, gerade und krumme Straßen, große und kleine Häuser, Kirchen mit Türmen und Kirchen mit Kuppeln – alles, was eine Stadt braucht. Dagegen, daß Berlin groß ist, ist nichts zu sagen. Daß die Berliner unfreundlich sind, ihre Kinder unerzogen, ihre Taxifahrer ungastlich, ihre Polizisten unfähig und ihre Portiers unhöflich – vielleicht kann es bei einer Stadt, die seit Jahrzehnten ausgehalten wird, nicht anders sein. Aber ich mag es nicht.
    Humorlos, erkältet und fiebrig, wie ich aus Berlin abflog, kam ich in Mannheim an. Nägelsbach hatte mir auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, mein Auto stehe in der Werderstraße; er hatte erreicht, daß die Polizei es nicht auf der Friesenheimer Insel vor den Toren der Stadt, sondern bei mir um die Ecke abstellen ließ, und hatte mir auch den Bußgeldbescheid erspart. Georg war aus Straßburg zurück und wollte mir berichten. Brigitte fuhr übers Wochenende mit Manu nach Beerfelden. Welker drängte auf ein Treffen. Es müsse spätestens am Sonntag morgen sein; er sei über das Wochenende da und erwarte meinen Anruf und meinen Besuch. Dazwischen quengelte Karl-Heinz Ulbrich. So gehe es nicht. Wir müßten dringend miteinander reden. Er habe inzwischen ein Handy, und ich solle ihn anrufen. Ich löschte die Nachricht, ohne mir die Nummer zu notieren.
    Die paar Schritte vom Büro nach Hause waren wie Waten durch Schlick, und auf der Treppe hatte ich Angst, ich würde es wieder nicht schaffen, wie damals vor Weihnachten. Als ich im Bett lag, rief ich Philipp an. Er hatte keinen Dienst und kam auf der Stelle.
    »Ich kann gar nicht sagen, wie froh ich bin, daß du da bist. Hörst du mich ab? Und verschreibst mir was und besorgst es mir? Ich muß morgen wieder auf den Beinen

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