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Selbs Mord

Selbs Mord

Titel: Selbs Mord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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tot sei. Und daß das Haus wieder vom Arzt Welker geleitet werde. Nägelsbachs Gleichnis hatte mir gefallen.
    Von Welker war ein Brief in der Post. Er bedankte sich mit einem Scheck über zwölftausend Mark. Außerdem lud er mich auf den übernächsten Samstag zum Fest des Wiedereinzugs in die Gustav-Kirchhoff-Straße ein. Da würden wir uns alle noch mal wiedersehen.
    Ich fragte mich, ob ich ihm noch die detaillierte Rechnung ausstellen sollte, die ich ihm bei der Erteilung des Auftrags versprochen hatte. Meistens erstatte ich meinen Auftraggebern nach Abschluß des Falls auch einen schriftlichen Bericht. War der Fall abgeschlossen? Mein Auftraggeber wollte nichts mehr von mir. Er hatte sich bedankt, mich bezahlt, und das Wiedersehensfest, zu dem er einlud, war ein Abschiedsfest. Was ihn anging, war der Fall abgeschlossen. Und was mich anging?
    Wer hatte Schuler zu Tode erschreckt? Samarin hatte es weder ausdrücklich zugegeben noch ausdrücklich bestritten. Ich konnte nicht glauben, daß er Schuler einfach des Geldes wegen aus dem Weg geräumt hatte. Sonst hätte er nicht erwähnt, daß Schuler ihm Lesen und Schreiben beigebracht hatte. Wenn er ihn umgebracht hatte oder hatte umbringen lassen, steckte mehr dahinter als der Koffer mit dem Geld. Was? Und wie war Schuler zu Tode erschreckt worden?
    Oder machte ich mir etwas vor? Wollte ich nicht wahrhaben, daß ich der Grund für Schulers Tod war? Suchte ich deshalb nach Anschlägen, wo es nur seine Altersschwäche und -verwirrtheit und meine Langsamkeit gab? Eine schwache Konstitution, ein schlechter Tag, eine verwirrende Menge Geld – langte das nicht, um Schuler in die Verfassung zu bringen, in der er mir begegnet war?
    Ich stand auf und trat ans Fenster. Da hatte seine Isetta gestanden, da hatte er mir den Koffer gegeben, da war er in einer langen Schräge über die Straße und zwischen Ampel und Baum auf die Grünanlage gezogen. Dort war er am Baum gestorben. Die Ampel wurde rot, gelb, grün und wieder gelb und rot. Ich konnte die Augen nicht von ihr lassen: der Totenlampe für den Lehrer a. D. Adolf Schuler.
    Ob Samarin ihm einen tödlichen Schrecken eingejagt oder das Alter ihn in die üble Verfassung gebracht hatte – ich hätte ihn retten können und hatte ihn nicht gerettet. Ich war in seiner Schuld. Ändern konnte ich an seinem Tod nichts, ich konnte ihn nur noch aufklären. Es war wie ein Auftrag.
    Rot, gelb, grün, gelb, rot. Nein, ich schuldete nicht nur Schuler die Aufklärung seines Tods, sondern auch mir die Aufklärung meines letzten Falls. Denn das war dieser Fall: mein letzter. Außer ihm, den ich dank einer zufälligen Begegnung auf der Hirschhorner Höhe bekommen hatte, hatte es seit Monaten keinen Auftrag mehr gegeben. Vielleicht würde man mich noch mal auf die Suche nach falschen Kranken schicken. Ich würde es nicht mehr wollen. Schade, daß man sich den letzten Fall nicht aussuchen kann. Einen Höhepunkt, einen Abschluß, einen, der alles Getane rund und stimmig macht. Statt dessen ist der letzte so zufällig wie alle anderen. So ist das: Man macht dies, und man macht das, und auf einmal war’s ein Leben.

11
Tausend Möglichkeiten
    Ich erwischte Philipp auf dem Flur. »Am liebsten würde ich nicht mehr reingehen.« Er deutete mit dem Kopf zu Nägelsbachs Krankenzimmer.
    »Hast du den Bericht der Gerichtsmedizin?«
    »Gerichtsmedizin?« Dann fiel ihm ein, was ich wollte, und auch, daß er den Bericht auf dem Schreibtisch hatte. »Komm mit!«
    Auf den beiden Stühlen vor dem Schreibtisch lagen Akten und Post, und so setzte ich mich auf die Untersuchungsliege, als wollte Philipp gleich mit dem Schlag seines Hämmerchens auf mein Knie meine Reflexe testen. Er blätterte. »Brust und Bauch eingedrückt, lebenswichtige Organe verletzt, Genick gebrochen – war ein übler Unfall.«
    »Ich habe ihn kurz davor erlebt. Mit ihm stimmte was nicht. Als hätte jemand ihm einen furchtbaren Schrecken eingejagt.«
    »Vielleicht war er krank. Vielleicht hatte er aus Versehen zu viele Schlaftabletten genommen. Vielleicht waren seine Medikamente schlecht eingestellt. Vielleicht hat er ein neues Beruhigungsmittel schlecht vertragen oder ein neues Blutdruckmittel. Mein Gott, Gerd, es gibt tausend Möglichkeiten, warum jemand schlecht drauf ist und einen Unfall hat.«
    Daß Schuler nur mal versehentlich ein falsches Blutdruckmittel oder zu viele Schlaftabletten genommen haben sollte, wollte mir nicht in den Kopf. Schuler war kein Trottel. Seine Bücher- und

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