Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Titel: Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Welzer
Vom Netzwerk:
hätte meinen Wohnraum im Lauf meines Lebens nicht ständig vergrößert und hätte schon gar kein Auto in der Garage. Ich selbst bin das Problem, das gelöst werden muss, wenn unsere Welt zukunftsfähig werden soll. Seit mir das klargeworden ist, habe ich intensiv darüber nachgedacht, was eine Transformation der mentalen Infrastrukturen eigentlich bedeutet. Jedes Produkt, vom VW Scirocco bis zu einem beliebigen Duschgel, erzählt in Konsumgesellschaften eine Geschichte über seinen Nutzer, wie eben ein Autobahnsystem eine Geschichte über unsere Vorstellungen von Mobilität und ein Autohaus eine Geschichte über unsere libidinösen Bedürfnisse erzählt. So betrachtet ist die Welt des angeblichen Homo oeconomicus eine Welt der Gefühle, Wünsche, gelernten Bedürfnisse und nur zu begrenzten Teilen von Rationalität geprägt, und so handfeste Dinge wie die Wachstumsraten eines Unternehmens und das Funktionieren eines Arbeitsmarktes hängen von solchen nur scheinbar weichen Faktoren wie Emotionen ab.
    Deshalb ist die Geschichte, die man gegen den Status quo setzen könnte, grundsätzlich ganz unvollständig und unrettbar hilflos, wenn sie die Geschichten, die die Produkte und ihre Infrastrukturen immer schon erzählen, ignorieren zu können glaubt. Die Geschichte, die die Aufklärung erzählt, setzt auf der kognitiven und meist leider auch auf der moralischen Ebene an und hat die wenig überzeugende Botschaft mitzuteilen, dass das Leben zwar weniger lustvoll, aber für künftige Generationen aussichtsreicher wäre, wenn man es veränderte. Das ist kaum attraktiv, da scheint die Welt des ALLES IMMER erheblich mehr zu bieten zu haben. Deshalb kann man noch so viel »Bildung für nachhaltige Entwicklung« machen und sich wundern, dass die Entwicklung moderner und sich modernisierender Gesellschaften ihre Richtung nicht wechselt: weil wir uns in einer Geschichte befinden, die uns in den Begriffen von Fortschritt, Wettbewerb und Wachstum erzählt. Bevor wir etwas gegen diese Geschichte einwenden können, sind wir immer schon Teil von ihr.

Wissenschaft
    Der Wissenschaftsbetrieb ist exakt so organisiert wie die anderen Teilsysteme in einer arbeitsteiligen modernen Gesellschaft: Er schreibt eine spezifische Ausbildung vor, die mittels festgelegter Schritte und Prüfungen zu durchlaufen ist, setzt Hürden, die der Selektion dienen, verfügt über Integrations- und Ausschließungsmechanismen und verteilt neben monetären Belohnungen in hohem Maße auch symbolische. Wer in diesem System »etwas wird«, wird das nicht ohne Einpassung in einflussreiche Arbeitszusammenhänge, nicht ohne das Verfassen von Texten für »peer-reviewed«-Journals, nicht ohne die Einwerbung von Forschungsgeldern, nicht ohne die positive Evaluation seiner Arbeit durch Agenturen und Studierende. Kurz: Er steht unter so spezifischen impliziten und expliziten Anforderungen wie jeder andere auch, der in einem berufsförmigen Teilsystem der Gesellschaft »etwas werden« möchte. Mit hehren Zielen wie »Erkenntnis« oder »Fortschritt« hat das erst mal nichts zu tun.
    Wissenschaftler ist, wer durch Kennziffern belegen kann, Wissenschaftler zu sein – Höhe der eingeworbenen Drittmittel, Zahl der Publikationen, Rangreihe im Zitationsindex, Menge der betreuten Dissertationen usw. usf. Dass das mutatis mutandis auch für die Relevanz von Universitäten, ja von ganzen Fächern gilt, vermag in einer Kultur, die ihr einziges Gütekriterium in der Messbarkeit hat, nicht zu verwundern, genauso wenig wie der Reputationsverlust, den die Wissenschaft gerade dadurch erlitten hat, dass sie sich dem Diktat des Messens ihres Outputs so unterworfen hat wie ein devoter Werksleiter eines Eisenkombinats im Stalinismus.
    Die Aufstiegswege und die Modi der Mittelverteilung sind in allen Fächern und in Bezug auf alle wissenschaftlichen Gegenstände gleich, was bedeutet, dass es sachlich keinen Unterschied macht, ob man als Sexualforscher, als Ornithologe, als Teilchenphysiker, als Meteorologe oder als Kunstwissenschaftler Karriere macht und Reputationsgewinne erzielt. In der Öffentlichkeit wird irrtümlicherweise angenommen, dass ein Klimawissenschaftler einen anderen Bezug zu seinem Gegenstand haben müsse als beispielsweise ein Maschinenbauingenieur – also zum Beispiel einen klimapolitischen. Das ist nicht der Fall und wäre meist auch kontraproduktiv. Als noch junger und naiver Massengewaltforscher habe ich vor einigen Jahrzehnten nicht schlecht gestaunt, als mir ein

Weitere Kostenlose Bücher