Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
Teilnehmer an einer Holocaustkonferenz im Hotel beim Pellen seines Frühstückseis mit Begeisterung davon berichtete, er habe eine tolle Quelle zu einem besonders furchtbaren Massaker entdeckt. Ich dachte damals, Wissenschaft müsste etwas mit der außerwissenschaftlichen Bedeutung der Forschung zu tun haben – aber hier äußerten sich die Affekte des Wissenschaftlers genau so, wie sie Robert Musil im »Mann ohne Eigenschaften« beschrieben hatte: dass ein Mediziner von einem schönen Krebsfall so entzückt sein kann wie vom Anblick einer schönen Frau. Dass man zum Beispiel durch das Verfassen einer »Enzyklopädie des Holocaust« beim Kampf um einen Lehrstuhl punkten kann, wäre mir damals noch absonderlich erschienen.
Aber sogenannte Transferleistungen, wie man sie Abiturienten im Politik- oder Geschichtsunterricht abfordert, sind nicht Teil der Wissenschaftskultur; sie stören eher die Abläufe und sind daher geeignet, Karrieren zu blockieren. Von daher wäre die Erwartung, Klimaforscher würden aus ihren Befunden Transfers zu ihrer eigenen Lebenspraxis herstellen, ihrerseits praxisfremd, zumal sich gerade die Klimaforschung durch eine beeindruckende Erhöhung ihrer Reputation und der verfügbaren Forschungsgelder auszeichnet und damit Karrierewege öffnet, die jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit Recht erfolgversprechender erscheinen als jene, die etwa die Papyrologie zu bieten hat. Das hat etwas mit der außerwissenschaftlichen Moralisierung des Klimathemas zu tun, die auf dem öffentlichen Aufmerksamkeitsmarkt stattgefunden hat.
Selbstentmündigung in Grün
Selbstverständlich hilft das internetfähige Handy auch bei Kaufentscheidungen: nicht nur, dass man beim Aufruf entsprechender Seiten blitzartig Preisvergleiche anstellen kann, falls man im Supermarkt eine Tüte Fruchtgummi kaufen möchte, man kann auch dem Ziel der Nachhaltigkeit dienen, indem man sich beispielsweise den »Carbon footprint« oder die Preise eines Produktes anzeigen lässt, die anfallen würden, wenn man die externalisierten Kosten einrechnete. Findige Nachhaltigkeitsakteure entwickeln nämlich Apps, die strategische oder moralische Konsumentscheidungen erleichtern sollen, indem sie Informationen zum Produkt liefern, die dieses selbst nicht preisgibt. So könnte ein so unschuldig daherkommender Fruchtjoghurt sich unmittelbar als die ökologische Katastrophe outen, die er hinsichtlich der Transportaufwände, seiner Klimawirkungen und der Entsorgungsprobleme auch tatsächlich ist. Und der potentielle Käufer könnte zugleich sehen, dass der »echte Preis« für dieses Produkt eben nicht 0,39 Euro ist, sondern unter Einrechnung aller externalisierten Umweltkosten zum Beispiel 1,89 Euro wäre. Fasziniert kann er dann das danebenstehende Konkurrenzprodukt aus dem Kühlregal nehmen, sein Smartphone dieselben Berechnungen durchführen lassen und feststellen, dass dieses Produkt zwanzig Prozent weniger klimaschädlich ist als das vorherige und sein »echter Preis« nur 1,45 Euro ist. Es schmeckt zwar nicht und kostet mit 0,79 Euro im falschen Preis mehr als das doppelte des schuldigen Joghurts, aber das Gerät hat psychologisch die korrekte Kaufentscheidung schon festgelegt. Wer würde davon noch abweichen, nachdem der ganze Aufwand getrieben worden ist?
Allerdings: Der Recherche- und Rechenaufwand, der hinter dem Rücken des informationshungrigen Käufers getrieben wird und erhebliche Mengen Energie für den Betrieb der Suchmaschinen erfordert, wird hier nicht berechnet – wie überhaupt generell übersehen wird, dass all die Berechnerei von »Carbon footprints« und ökologischen Rucksäcken sich in nichts von jeder anderen Dienstleistung unterscheidet: Auch sie trägt ja zunächst einmal zur permanenten Erhöhung von Aufwand bei. Dem Klima ist es übrigens gleichgültig, ob die Server von Google laufen, weil jemand wissen möchte, ob Lady Gaga beim Zahnarzt war oder welcher Joghurt unter Gesichtspunkten des Klimaschutzes empfehlenswert ist – Energie erfordern beide Typen von Information gleichermaßen, und dieser Umstand wird in beiden Fällen dem Informationsbedürfnis nachgeordnet (falls man überhaupt je auf den Gedanken gekommen ist, dass die Befriedigung von Informationsbedürfnissen im Internetzeitalter Aufwand erzeugt). Haben Sie je von einer Google-Suche Abstand genommen, weil Ihnen einfiel, dass sie Strom braucht?
Anstatt sich nun intuitiv für einen beliebigen Joghurt zu entscheiden oder sogar
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