Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
Muße, Kontemplation, Reinheit usw. – zu haben sein würde, das scheint dem Aufstieg des Industriekapitalismus tief eingeschrieben. »Wenn die Schlote qualmen und der Dreck vom Himmel fällt, dann wird gearbeitet!«, sagte man im Ruhrgebiet noch in den 1970er Jahren.
Die Überzeugung, der Fortschritt habe eben seinen Preis, gehört mithin zum kulturellen Gepäck dieses Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells, weshalb man sich nicht zu wundern braucht, wenn heute noch nicht wenige Ruhrgebietsbewohner »ihre« Autobahn A 40 als kulturelle Errungenschaft lieben und kein Problem im Dauerlärm und Dauerstau sehen – das gehört einfach dazu. Der Verzicht auf Ruhe, Zeit, Gesundheit, der in diesem Kulturmodell immer schon vorausgesetzt und akzeptiert war, gehört zum Tradierungsinventar und zur mentalen Infrastruktur der Bewohner moderner Gesellschaften und verschwistert sich nicht selten mit sozialpolitischen Desideraten: Sich ein Auto leisten zu können, in die Ferien fahren zu können, sich »etwas gönnen« zu können, das sollte nach dem Sozialstaatsmodell der westeuropäischen Nachkriegsgesellschaften eben auch »dem Arbeiter« zustehen, womit sich für ihn alle Verzichtsleistungen dadurch auszahlten, dass er sich auch »ein schönes Leben« leisten konnte.
Sich auch mal was gönnen.
Naturschutz oder später Ökologie wurden demgemäß erst bedeutsam, als an diesem ausbalancierten Gefüge von Verlust und Gewinn etwas ins Ungleichgewicht geriet. Es ist gewiss kein Zufall, dass die Entstehung der modernen Umweltschutz- und Ökologiebewegung zu einer Zeit anhob, in der verfeinerte wissenschaftliche Messverfahren Umweltschädigungen auch dort nachweisbar machten, wo man sie mit den Sinnen nicht wahrnehmen konnte. Und dass dies zu einem Zeitpunkt geschah, da die Wohlstandsniveaus in den frühindustrialisierten Ländern so angewachsen waren, dass man den Blick von der Sicherung auch auf die Kosten des Wohlstands richten konnte. Dabei entsprang die ökologische Revolution jeweils auch nationalen Eigentümlichkeiten: Während in den USA die Zerstörung der Wildnis einen wichtigen Kristallisationskern bildete, war es in Deutschland der Wald und in Spanien das Wasser, um die sich jeweils generalisierbare Besorgnisse zentrierten. [66]
Eine Anti-Atomkraft-Bewegung, die eine vergleichbare Intensität wie in Westdeutschland entfaltet hätte, war in anderen Ländern nicht zu verzeichnen. Sie liefert ein Beispiel, wie nachhaltig und ungleichzeitig Protestbewegungen wirken können. Ohne die in den 1970er und 1980er Jahren starke und konfliktbereite Bewegung gegen die Atomkraft hätte es gewiss nicht die kontinuierliche Ablehnung dieser Technologie in der Mehrheitsbevölkerung gegeben, die dann nach dem Unfall von Fukushima gleichsam die akklamatorische Basis für den rasch beschlossenen Atomausstieg bildete und die »Energiewende« einläutete. Allerdings kann am Beispiel der Anti-AKW-Bewegung auf eine tragende Bedingung für erfolgreiche soziale Bewegungen hingewiesen werden: Diese werden nämlich nicht erfolgreich, wenn sich ihre Protagonisten nur subkulturell zusammensetzen – also etwa aus Studierenden und Schülern, die mit Abenteuerlust vor die Bauzäune ziehen, Bahnschienen blockieren oder in Innenstädten demonstrieren. Eine soziale Bewegung wird erst erfolgreich, wenn sie Personen aus allen gesellschaftlichen Gruppen einbezieht, auch dann, wenn diese ursprünglich keine vitalen Interessen am partikularen Anliegen der Initiatoren haben. Mit anderen Worten: Die Bürgerrechtsbewegung in den USA wird in dem Augenblick erfolgreich, wo Weiße aus allen gesellschaftlichen Gruppen sich ihr Anliegen zu eigen machen; die Abschaffung der Sklaverei wird dann durchsetzbar, wenn sie zur Sache von Menschen wird, die selbst keine Sklaven sind.
Die Anti-AKW-Bewegung konnte die subkulturelle Dimension deswegen überschreiten, weil sich im Thema Atomkraft mehrere Problemfelder überschnitten: die Ablehnung einer prinzipiell unbeherrschbaren Technologie mit unlösbaren, aber generationenübergreifenden Entsorgungsproblemen – darin fanden sich Wissenschaftler mit Pastoren und mit Jugendlichen zusammen. Zum Zweiten förderte dieser Typ von Großtechnologie politischen Widerstand gegen die Monopolisierung wirtschaftlicher Macht, drittens befürchtete man von liberaler Seite gravierende innen- und sicherheitspolitische Nachteile durch die Einführung solcher Technologie. Robert Jungk imaginierte in seinem vielgekauften Buch den
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