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Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Titel: Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Welzer
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Potential von 2795 Gigatonnen CO 2 , also etwa die fünffache Menge. Das Geschäftsmodell aller Mineralölunternehmen besteht darin, dieses Potential für 2795 Gigatonnen CO 2 aus dem Boden und aus dem Meer, aus dem Ölschiefer und den Ölsänden zu holen und auf den Markt zu bringen, und folgerichtig tun sie das auch, und zwar völlig unbekümmert um alle Probleme der globalen Klimaerwärmung. Sie investieren gigantische Summen in die Erschließung der Vorkommen, weil sie damit gigantische Umsätze und Gewinne zu erzielen gedenken. Exxon beispielsweise wird bis 2016 jährlich 37 Milliarden Dollar für die Suche nach Öl- und Gasvorkommen und ihre Erschließung ausgeben. Das sind ungefähr einhundert Millionen Dollar pro Tag. [84]  
    Das Geschäftsmodell von Unternehmen dieser Art ist, so plakativ kann man es sagen, die Zerstörung der Erde. Wollte man gegen den Klimawandel tatsächlich etwas unternehmen, müsste man also dieses Geschäftsmodell zerstören. Und genau an dieser Stelle wird aus dem McGuffin etwas völlig anderes: ein radikaler politischer Gegensatz, der durch die Pole Zukunftsfeindlichkeit und Zukunftsfähigkeit markiert ist. So betrachtet, ist der Klimawandel nämlich nicht unideologisch und subjektlos wie ein Naturgeschehen, sondern eine Bedrohung, die Verursacher hat, und zwar solche, die nicht entfernt daran denken, von dieser Verursachung abzulassen. Gegen diese Leute muss man Widerstand leisten.
    Das bedeutet zugleich auch: gegen eine Politik Widerstand zu leisten, die Zukunftsfeindlichkeit unterstützt und fördert. Gegenwärtig würde allerdings kein politischer Akteur gegen die Absichten von BP, Exxon, Gazprom usw. vorgehen, weil – und hier kommt das fossile System zu sich selbst – die komplette Wirtschaft und ihr Wachstumsprinzip von der beständigen Dosiserhöhung der täglichen Infusion mit fossilen Rohstoffen abhängig ist. Mehr noch: weil auch der Aufstieg der Mittelklassen in den Schwellenländern und die Erhöhung der Lebensstandards in den asiatischen und südamerikanischen Ländern genau daran hängt. Mit anderen Worten: Politisch steht nicht weniger als das Zivilisierungsmodell der expansiven Moderne zur Debatte.
    Das ist exakt am Beispiel der Verbesserung des Lebensstandards der Bewohnerinnen und Bewohner der Schwellenländer zu belegen, eben an der rasanten Entwicklung von Mittelklassen, von Konsumkulturen, von erhöhtem Wohlstand, von besserer Bildungs- und Gesundheitsversorgung. Denn es geschieht ja beides zugleich: die Erhöhung des durchschnittlichen Lebensstandards und der Geschwindigkeit der Zerstörung der natürlichen Ressourcen, also gerade der Voraussetzungen für die Zukunftsfähigkeit der expansiven Moderne. Das, was in ökologischer Hinsicht spektakulär verlorene Jahre sind, das sind für die aufsteigenden Bevölkerungsgruppen in Brasilien, China, Vietnam Wirtschaftswunderjahre, psychologisch wie ökonomisch vergleichbar mit der westeuropäischen Nachkriegszeit.
    Hier und in den USA ging es, wie gesagt , schon vor einem halben Jahrhundert richtig los mit dem Massenkonsum und der permanenten Ausweitung der Komfortzone; die Kehrseite des Aufstiegs bildeten die erwähnten exponentiellen Steigerungsraten im Material- und Energieverbrauch, bei den Emissionen und beim Müll – genau wie jetzt in den Schwellenländern. Das zugrundeliegende Prinzip ist simpel: Es gibt in Wachstumswirtschaften einfach mehr Treiber für Entwicklung als für Nachhaltigkeit. Die Zahlen sprechen für sich: Während heute jeden Tag 50000 Hektar Wald gerodet, 100 Arten verschwinden und 350000 Tonnen Fisch aus dem Meer geholt werden und Investoren überall auf der Welt Land aufkaufen, hat sich die weltweite Armut reduziert: Die Zahl derjenigen, die pro Tag nicht mehr als einen Dollar ausgeben können, hat sich seit dem Erdgipfel von Rio 1992 halbiert; wahrscheinlich gibt es demnächst auch weniger als eine Milliarde absolut arme Menschen. Beim Zugang zu Trinkwasser zeigt sich die gleiche Tendenz; insgesamt werden weit mehr Lebensmittel produziert als vor zwanzig Jahren, und sogar die Zahl der Kriege hat abgenommen.
    Was man hier beobachten kann, entspricht insgesamt genau jenem »Fahrstuhleffekt«, der den sozialen Frieden im europäischen Nachkrieg gewährleistet hat: Zwar blieb soziale Ungleichheit bestehen, vertiefte sich zum Teil sogar, aber mit dem Lebensstandard ging es für alle im Fahrstuhl nach oben. Das ist das unzweifelhafte Verdienst des Prinzips der Wachstumswirtschaft: Kein

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