Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
Moderne hätte also zur Voraussetzung, dass wir beginnen, uns selbst zu de-privilegieren. Abstriche an Wohlstand und Lebensstandard von sich selbst zu fordern, das ist natürlich etwas unangenehmer, als irgendwelche »Schuldigen« zu identifizieren und von irgendwem zu verlangen, man möge deren Privilegien doch bitte einschränken. Da wir aber vor der Aufgabe stehen, ein historisch ungeheuer erfolgreiches gesellschaftliches Modell so umzubauen, dass wir seine zentralen Errungenschaften bewahren und zugleich den Ressourcenverbrauch radikal absenken, kommen wir um die Erkenntnis nicht herum, dass die Transformation der Gesellschaft unweigerlich die Transformation unseres eigenen Lebens ist: das Herunterfahren von Ansprüchen, die Veränderung der konkreten Praxis, also die Veränderung der Mobilität, der Ernährung, des Arbeitens, der Freizeit, des Wohnens, die Umgewichtung von Werten. Das gute Leben muss man leider auch gegen sich selbst erkämpfen, gegen die Trägheit des Gewohnten, des gefühlten Menschenrechts auf »bitte immer so weiter«. Wenn es um Widerstand geht, bedeutet das immer auch: Widerstand gegen sich selbst.
Selbst denken
Der Kapitalismus ist ein System von faszinierender Geschmeidigkeit: Er regelt die Beziehungen der Menschen zueinander unabhängig davon, ob sie einander freundlich oder feindlich gegenüberstehen. Er erneuert und modernisiert sich durch seine wiederkehrenden Krisen. Er absorbiert Kritik und Gegenbewegungen, indem er für beides Teilmärkte schafft, also auch aus ihnen Modernisierungspotential schöpft. Er verwandelt die Welt und ihre kulturellen Differenzen und historischen Ungleichzeitigkeiten in einen gigantischen Synchronisierungsapparat, der von Energie, Arbeit und Material gespeist wird. Er wäre perfekt, hätte er nicht wie jedes andere Perpetuum mobile den konstruktiven Nachteil, dass er ohne Energiezufuhr von außen nicht läuft.
Je erfolgreicher und universeller der Kapitalismus wird, desto schneller geht ihm die Antriebsenergie aus. Aber die versiegt nicht plötzlich und ein für alle Mal: Daher gibt es keinen Systemzusammenbruch, sondern einen differenzierten Zerfallsprozess. So partikular und ungleichzeitig das System sich entwickelt hat, so fragmentiert zerfällt es auch, hier schneller und brutaler und dort langsamer und sanfter. Das bedeutet: Auch und vielleicht gerade im Zerfall eröffnen sich Räume für die Gestaltung einer anderen Wirtschaft und Gesellschaft. Diese Räume lassen sich aber nur dann nutzen und gestalten, wenn es ein Ende der unseligen Arbeitsteilung gibt, dass die einen für die Besorgnis um die Welt zuständig sind und die anderen für ihre Zerstörung. Die Besorgnis muss praktisch werden: unternehmerisch, zivilgesellschaftlich, politisch, und sich in andere, nachhaltige Formen des Produzierens, Handelns, Wirtschaftens, Assoziierens verwandeln. Es muss etwas gegen das Bestehende gesetzt werden, als Gegenmodell, Vorbild, Vorschlag, Labor. Nur durch die Reibung an einer anderen, gelingenden Praxis verliert er seine Geschmeidigkeit, der Kapitalismus.
Was ist Ihre Rolle dabei? Stellen Sie sich einfach vor, wie Sie dereinst die Frage beantworten wollen, wer Sie gewesen sind und welchen Beitrag Sie entweder zur Zerstörung oder zur Sicherung von Zukunft geleistet haben. Stellen Sie sich selbst im Tempus Futur zwei vor: Wer werde ich gewesen sein? Das hilft: Vieles von dem, was im einfachen Futur als unbequem und lästig erscheint, wird im Futur zwei plötzlich interessant und attraktiv. Futur-zwei-Imaginationen verändern Wertigkeiten. Sie fangen an, zu überlegen, wie Sie gut gewesen sein werden. Eine Frage praktischer Intelligenz. Selbst denken. Die Transformation von der expansiven zur reduktiven Kultur ist die Transformation von einer einfachen zur intelligenten Kultur: von der Addition zur Kombinatorik, vom Wachstum zur Kultivierung, vom Aufbau zum Ausbau. Von Passivität zu Aktivität. Vom Dulden zum Widerstehen. Vom Dienen zum Genießen. Zum sich selbst wieder Ernst-Nehmen.
Das ist der Augenblick, an dem ich aufhören muss, Sie zu beschimpfen. Wir sind jetzt beide auf derselben Seite. Aber seien Sie vorsichtig: Sie bewegen sich hinaus aus der Komfortzone des Einverstandenseins und werden bald Gegenwind bekommen. Dafür müssen Sie gewappnet sein. Jetzt geht es um die besseren Argumente.
Deshalb noch etwas zum Politisch-Werden: Mir scheint es eine der fatalsten Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte zu sein, dass sich die ökologische
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