Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Titel: Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Welzer
Vom Netzwerk:
gegebenen Zeitpunkt entwickelt haben, gehen in die Organisation der synaptischen Verschaltungen eines sich entwickelnden menschlichen Gehirns ein. Menschliche Gehirne kommen nicht im Singular vor, sondern bilden sich nur in einem Netzwerk anderer Gehirne aus.
    Philosophen dagegen stellen sich Menschen als Erwachsene vor, die niemals Kinder waren (das hat Norbert Elias einmal dem verblüfften Iring Fetscher in einer Fernsehdiskussion gesagt). Und tatsächlich findet ja der Prozess des Aufwachsens so durch und durch in einem sich beständig erweiternden Beziehungsgeflecht statt, dass schon die Frage falsch ist, wie Individuum und Gesellschaft, Alter und Ego, zueinanderfinden. Menschen sind immer schon sozial, bevor sie auch zu Individuen werden. Menschliche Überlebensgemeinschaften basieren nicht auf Individualismus und Konkurrenz, sondern auf Kooperation.
    Unser heutiges Selbstbild geht auf ein kulturell geprägtes Selbstmissverständnis zurück: Natürlich benötigt eine arbeitsteilige Gesellschaft, die ihre Mitglieder zu hoch leistungsfähigen Spezialistinnen und Spezialisten macht, Menschen, die von sich ein egozentrisches, kompetitives, individualistisches Selbstbild haben. Je individualistischer diese Selbstbilder im Prozess der kapitalistischen Zivilisation werden, desto konsumistischer wird die Kultur, denn Konsum ist ja Distinktion. Waren werden desto mehr zur Identitätsausstattung, je weniger anderes dafür zur Verfügung steht. Daher gibt es heute Biographie-Coaches, die Lebensläufe so designen, dass umfassende Kompatibilität und gefühlte Individualität eine perfekte Symbiose bilden: »So sollte ein Manager, der an seiner Karriere interessiert ist, mindestens eine – möglichst extreme – Sportart wie Klettern oder Drachenfliegen betreiben und die komplette Ausrüstung dafür immer auf dem neuesten Stand halten. Ferner sollte er seine zwei oder drei (kurzen) Urlaube im Jahr für unterschiedliche Erlebnistypen nutzen: einmal für eine Fernreise mit Erholungsfaktor und exotischem Flair, einmal für einen Trip mit kulturellem Anspruch und einmal für etwas Extremeres, am besten in Verbindung mit seinem Sport. Auch dafür sind jeweils Konsumartikel vom Reiseführer bis zur passenden Kleidung zu erwerben. Schließlich sollte er wenigstens ein ›ungewöhnliches‹ Hobby wie Kochen oder das Sammeln von Wein verfolgen, bei dem sich Kennerschaft ebenfalls am besten über Konsumentscheidungen darstellen lässt.« [116]  
    Auch so ein Manager war einmal ein Kind. Damals spielten die Identitätsmarker, die er sich heute zulegt, kaum eine oder jedenfalls eine viel geringere Rolle: Die meisten Eltern lieben ihre Kinder nach wie vor voraussetzungslos, und nach wie vor sind Eltern-Kind-Beziehungen nicht ökonomisiert. Ein Kind in den Schlaf zu singen, ihm vorzulesen, mit ihm herumzutoben, ihm einen Hund zu schenken: Das zahlt sich nicht aus. Kein Gegenwert der Beziehungsarbeit lässt sich monetarisieren; Kinder zu haben kostet in jeder Hinsicht mehr, als es wirtschaftlich einbringt. Eltern-Kind-Beziehungen entziehen sich dem Markt; Wettbewerb, Konkurrenz, Effizienz, Kalkül stehen nicht im Vordergrund. Und nach wie vor funktionieren sie prinzipiell auf anderer Basis: Vertrauen, Solidarität, Fürsorge, Empathie, Verzeihen, Schutz, Interesse, Mitfreuen und Mittrauern wären auf dem Markt dysfunktional, sie lassen sich nicht verrechnen. Aber für gelingende Beziehungen sind sie die notwendige Voraussetzung.
    Vor diesem Hintergrund ginge es um eine neue Geschichte über uns selbst, zusammengesetzt aus Potentialen des guten Lebens, die noch nicht verschüttet sind, und solchen, die neu entdeckt und experimentiert werden. Beziehungsfähigkeiten unterliegen selbstverständlich ebenfalls historischen Formatwandlungen, darüber sollte man keine allzu romantischen Vorstellungen hegen. Aber immerhin stehen die 200 Jahre Kapitalismus und besonders die paar Jahrzehnte Neoliberalismus zu den 200000 Jahren Menschheitsgeschichte im Verhältnis einer historischen Fußnote. Grundlegende Prinzipien einer Lebens- und Überlebensform lassen sich nicht durch kurzzeitig erfolgreiche Wirtschafts- und Subjektformen zum Verschwinden bringen, zum Glück.
    Eine Alphabetisierung zum guten Leben kann auch bei anderen Vergemeinschaftungen ansetzen, die nicht marktförmig begründet und organisiert sind: Freundschaften, Cliquen, Sportvereine, Selbsthilfegruppen, Bürgerinitiativen. Auch hier gilt, dass solche Sozialbeziehungen durchaus

Weitere Kostenlose Bücher