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Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Titel: Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Welzer
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instrumentellen und utilitaristischen Zwecken folgen können, aber eben nicht funktionieren könnten, würden sie ausschließlich solchen Zwecken folgen. Ohne Vertrauen, Solidarität, Kooperation, Empathie, Reziprozität, Kameradschaft geht hier nichts; die Beziehungen sind einer moralischen Ökonomie [117]   verpflichtet, nicht einer monetären.

Lokale Kulturen
    Selbst unter repressiven staatlichen Bedingungen kann es eine Frage lokaler Kulturen sein, welches Verhalten Menschen an den Tag legen, wenn es um Fragen des Umgangs mit ausgegrenzten Personengruppen geht. Im oberitalienischen Dorf Nonantola wurden 1943 73 jüdische Kinder aus Deutschland, Österreich und Jugoslawien gerettet, die von einer jüdischen Hilfsorganisation dorthin geschleust und in einer Villa untergebracht wurden. »Was die Rettung dieser Kinder so bemerkenswert macht, ist neben der relativ hohen Zahl die Kooperation der Bewohner von Nonantola, der örtlichen Behörden, kirchlichen Würdenträger und jüdischen Hilfsorganisationen. Die Kinder lebten nicht versteckt und abgeschirmt in der Villa, sondern nahmen am dörflichen Leben teil. Nach Mussolinis Sturz und dem Einmarsch der Deutschen im September 1943 waren sie akut bedroht. Spontan entschieden die Dörfler, die Kinder zu verstecken; 30 fanden Zuflucht in den Seminarräumen der Abtei, die anderen bei Familien. Die Behörden in Nonantola stellten den Kindern gefälschte Pässe aus, so dass die meisten fünf Wochen später in die Schweiz fliehen konnten. Abgesehen von einem Jungen überlebten alle Kinder die nationalsozialistische Verfolgung und wanderten 1945 nach Palästina aus.« [122]  
    Die Rettung der Kinder konnte nur gelingen, weil sie von ganz unterschiedlichen Personengruppen der Dorfgemeinschaft getragen wurde. Das muss nicht heißen, dass alle Bewohner des Ortes dafür gewesen wären; entscheidend war, dass sich hinreichend viele Menschen in den unterschiedlichsten Schichten und Funktionen fanden, um die Rettung zu organisieren. Nonantola hatte also eine lokale Kultur, die die Kinder als zugehörig betrachtete und es daher als selbstverständlich erscheinen ließ, sie vor den Deutschen zu retten. Das war in diesem Umfang nirgendwo anders der Fall: Überall galt Hilfe als abweichendes Verhalten und musste konspirativ erfolgen, eben nicht als gemeinschaftliche Aktion eines ganzen Dorfes. Ein anderes, noch umfassenderes Beispiel stellt die Rettung der dänischen Juden dar, die von Fischern nach Schweden in Sicherheit gebracht wurden. Auch dies war nur möglich durch eine gelebte Kultur der Zugehörigkeit. Seine Bedeutung erschließt sich daraus, dass es etwas Vergleichbares in keinem anderen europäischen Land gegeben hat – überall war die Zuarbeit der Behörden und Bevölkerungen zur Verfolgung der Juden der Normalfall und Widerstands- und Rettungshandeln die seltene Ausnahme. [123]  
    Es wird meist unterschätzt, wie wichtig eine gelebte Kultur für die Entscheidungen der Einzelnen ist, und überschätzt, welche Rolle Wissen und Ethik für individuelle Handlungen spielen. Wenn heute in hierarchischen Institutionen wie Schulen Ausgrenzung, Ungleichheit und Konkurrenz gelebt werden, kann man noch so viele Seminare und Vorträge zum Thema »Zivilcourage« abhalten: Praktisch wirksam wird nur das implizite Handlungsmodell der gelebten Kultur sein, und nicht die explizite, aber nicht gelebte Norm. Denselben performativen Widerspruch trifft man in wissenschaftlichen Institutionen an, die nachhaltiges Handeln postulieren, es aber nicht mal schaffen, Recyclingpapier zu verwenden oder Videokonferenzen zu veranstalten, statt aufwendigste Flugreisen für halbtägige Workshops zu finanzieren.
    Sowenig Ina K. auch nur eine Sekunde darüber »nachgedacht« haben dürfte, ob es nun sinnvoll sei, das Kind zu retten oder nicht, so wenig dürfte in einer integrativen Kultur »Zivilcourage« überhaupt ein Thema sein. Und in einer nachhaltigen Kultur würde der internationale Workshop, bei dem die Beteiligten physisch anwesend sind, die problematische und legitimationsbedürftige Ausnahme sein und die Vermeidung sinnlosen Aufwands der Normalfall gelebter Praxis.
    Warum? Weil gelebte lokale oder professionelle Kulturen Wir-Bilder bei ihren Mitgliedern hervorbringen, die ein bestimmtes Verhalten kategorial ausschließen (»so etwas machen wir nicht«), ein anderes dafür kategorial voraussetzen (»das ist für uns selbstverständlich«). Die Bedeutung solcher Wir- und Selbstbilder kann

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