Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
einem beliebigen Smartphone aus abrufbar macht, führt keineswegs in die Wissensgesellschaft, sondern allenfalls in die Wissenskonsumgesellschaft. Und damit in eine Art Wissensentropie, in der Wichtiges und Unwichtiges, Fundiertes und Hanebüchenes ununterscheidbar ineinanderfließen und Wissen herkunfts- und geschichtslos wird.
Mir geht es dabei nicht um das übliche kulturkritische Lamento, dass Schülerinnen, Schüler und Studierende früher mehr und so weiter, denn die Externalisierung von Gedächtnisinhalten jeder Art gehört zur kulturellen Evolution der Menschen, seit sie Symbole gebrauchen. Dieses Auslagern von Wissen reicht vom Markieren eines Nahrungsverstecks bis zum Internet, und die Entwicklung der intellektuellen Kapazität des menschlichen Gehirns ist von der Entwicklung und Ausweitung der externen Gedächtnisspeicher gar nicht zu trennen – denn die Hardware des Gehirns änderte sich ja über die letzten 200000 Jahre nicht, wohl aber seine Speicher- und Distributionskapazität. Wie jeder externe Gedächtnisspeicher funktioniert auch das Internet nur so gut oder schlecht, wie die Selektionsmechanismen des Abrufs arbeiten: Einem muss klar sein, was er warum wissen will, ansonsten interferieren die Informationen und Daten lediglich und bilden beliebige Muster – so wie eine beliebige Google-Anfrage zunächst mal unterschiedslosen informationellen Müll liefert.
Der gelingende Abruf von Dingen, die man im individuellen Gedächtnis gespeichert hat, beruht übrigens darauf, dass andere Gedächtnisinhalte blockiert werden, wenn ich nach einem bestimmten Namen, Zitat oder nach einer Telefonnummer suche. Da das menschliche Gedächtnis ein assoziatives System ist, das ähnliche synaptische Verknüpfungen durchmustert, um die »richtige« Erinnerung aufzufinden, braucht es Hemmungen für die Muster, die mit dem richtigen Abruf interferieren würde: Gedächtnis beruht also auf gelingender Blockierung von fast allem, was man gespeichert hat, nicht auf freiem Zugriff und Abruf. [173] Der russische Psychologe Alexander Luria hat den Fall des Gedächtniskünstlers Schereschewskij [174] geschildert, dessen Problem darin bestand, sich eben alles merken zu können. Auf Varieté-Veranstaltungen kam es gut an, wenn er sich die längsten Zahlenfolgen oder Formeln auf Zuruf fehlerfrei merken konnte, aber für die Bewältigung des Alltags war sein totales Gedächtnis sehr hinderlich: weil ihn in jeder Situation alle möglichen Gedächtnisbestände bestürmten und ihn daran hinderten, die Erinnerung auszuwählen, die er tatsächlich brauchte. Um den Horror eines totalen Gedächtnisses abschätzen zu können, stellen Sie sich eine Beziehung vor, in der keiner der Beteiligten jemals etwas vergisst und in jedem Konflikt das Gesamt aller bislang begangenen Verfehlungen präsent ist. Ein totales Gedächtnis, heißt es in Chris Markers »Sans Soleil«, [175] ist ein anästhesiertes Gedächtnis: Es weiß alles, kann aber keinen Gebrauch davon machen.
Und noch eine Analogie zum individuellen Gedächtnis ist in diesem Zusammenhang interessant. In der Gedächtnisforschung unterscheidet man die folgenden fünf Gedächtnissystem:
Einteilung des Langzeitgedächtnisses in fünf Systeme.
Das prozedurale Gedächtnis steht für (meist motorisch ausgeführte) Fertigkeiten, Priming für die Wiedererkennung zuvor unbewusst wahrgenommener Reize. Das perzeptuelle Gedächtnis prüft die Bekanntheit mit einem physikalischen oder sozialen Objekt. Diese drei Gedächtnissysteme sind nondeklarativ, sie funktionieren ohne bewussten Zugriff. Anders das Wissenssystem, das aktiviert wird, wenn man nach (kontextfreien) Fakten sucht, und das episodische Gedächtnis für kontextbezogene Erinnerungen, die eine mentale Zeitreise erlauben und die an das Selbst und an autonoetisches Bewusstsein gebunden sind. Autonoetisch bedeutet: Wenn ich das Wissenssystem aktiviere oder nach einem Ereignis in meiner Lebensgeschichte suche, erinnere ich mich nicht nur, sondern ich erinnere mich auch, dass ich mich gerade erinnere. Das können nur Menschen, andere Lebewesen nicht. Dabei entspricht das Wissenssystem, also die Gesamtheit der Informationen, die ich abrufen kann, dem Weltwissen, wie es das Internet liefert: Im Unterschied zu der autobiographischen Erinnerung an eine Reise nach Rom, die an den Kontext der Zeit, der handelnden Personen usw. gebunden ist, ist das Wissen, dass Rom die Hauptstadt Italiens ist, kontextfrei: Weder weiß man, wann und
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