Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
unter welchen Umständen man das gelernt hat, noch verbindet sich damit irgendeine Emotion. Oft weiß man nicht einmal, dass man das weiß – bis es, wie bei einer Quiz-Show, abgerufen wird und glücklich verfügbar ist.
Welcher Wissensbestand warum bedeutsam ist, entscheidet sich also nicht auf der Ebene des Wissenssystems; ihm ist jeder Inhalt gleichgültig. Das gilt genauso für jedes Speichermedium, und natürlich auch – und wegen seiner unbegrenzten Kapazität besonders – für das Internet. Die Bedeutung einer Information entscheidet sich nicht auf der Ebene des Mediums, das sie speichert, weshalb es auch bei der Nutzung des gigantischen Speichers Internet einzig und allen auf den kulturellen Gebrauch ankommt, der für die Selektion des Wissens notwendig ist. Dafür ist eben der Kontext entscheidend: Auf welcher Basis ist dieses Wissen entstanden, wozu wird es gebraucht etc.?
Und jetzt kommt das entscheidende Problem. In so gut wie allen Bereichen herrscht in unserem Kulturmodell das Prinzip der Fremdversorgung: Alles wird bereitgestellt, ohne dass man auch nur entfernt einen Überblick über die zugrundeliegende Wertschöpfungskette, die Transportaufwände, den Arbeitsaufwand usw. hätte. Dies alles erscheint nicht in dem Produkt, das man gekauft hat. Das gilt strukturell gleichermaßen für ein T-Shirt wie für ein Huhn im Gefrierregal des Supermarkts wie für das »Samsung Galaxy S III«: Keinem dieser Produkte ist abzulesen, welchen Aufwands es bedurfte, um es herstellen und beim Konsumenten ankommen zu lassen. Diese Abstraktion, die die komplette Geschichte des Produkts von seiner Funktion als Ware abtrennt, kennzeichnet so gut wie alle Daseinsbereiche in modernen Gesellschaften. Wo der Strom erzeugt wird, der aus der Steckdose kommt, ist genauso abstrakt wie die Herkunft des Tetrapaks, das das Gefäß für die irgendwo von irgendwem hergestellte Sojamilch abgibt. Das Prinzip der Fremdversorgung bildet die Benutzeroberfläche einer rechenschaftslosen Welt, in der es keine Verbindung zwischen Produktion und Konsumtion gibt, außer jener, die das Geld stiftet, mit dem das Produkt bezahlt wird. Aber Geld ist seinerseits eine Abstraktion.
Fremdversorgungsketten sorgen für die geringe Resilienz und die hohe Verletzlichkeit moderner Gesellschaften und damit für die ausgeprägte Angst, dass bloß nicht irgendetwas ausfällt. Aber mehr noch: Sie verdunkeln den grundlegenden Sachverhalt, dass auch moderne Menschen in einem Stoffwechsel mit der Natur existieren. Exakt das ist es, was allen Bemühungen um die Schaffung eines Nachhaltigkeitsbewusstseins den Charakter einer Re-Education verleiht – so wie man Kinder auf Bauernhöfe schickt, damit sie die überraschende und für die meisten eher abstoßende Erfahrung machen, dass Milch aus Kühen kommt. Aber eigentlich müssen Kinder das gar nicht wissen: Denn eine Kultur des ALLES IMMER muss notwendig eine Kultur der Fremdversorgung sein; kein Pankower Schrebergärtner kann eine Mango oder eine Ananas auf seiner Parzelle ziehen, kein Freizeitangler ein Pangasiusfilet fangen (falls das überhaupt jemals ein Fisch gewesen ist).
Dasselbe ist nun mit dem Wissen geschehen: In seiner jederzeitigen allumfassenden Verfügbarkeit verschwindet seine Genese genauso wie seine Herkunft. Weder muss man es gelernt oder sich selbst erarbeitet haben, noch muss man wissen, wie es zustande gekommen ist. Solches Wissen ist, wie die Inhalte des Wissenssystems, kontextfrei, geschichtslos; eine Information ist so gut wie die andere. Damit ergibt sich eine Übertragung des Prinzips der Fremdversorgung auf die intellektuelle Ebene: das bequeme Abrufen von andernorts Bereitgestelltem. Vor diesem Hintergrund erschließt sich einmal mehr die Katastrophe der Reform des deutschen Schul- und Universitätssystems, deren wesentliches Ergebnis ja die Verwandlung von Bildung in Information und damit die Entkoppelung von Wissen und Denken ist. Oder auch die Entpolitisierungswirkung der Talkshows, in denen immer eine Meinung auf eine gegenteilige treffen muss, womit fälschlicherweise unterstellt wird, beide seien gleich viel wert. Geschichtslosigkeit und Kontextfreiheit sind die Merkmale intellektueller Fremdversorgung; mit solchem Wissen denkt man nicht, sondern man wird von ihm gedacht.
Auch das muss in Rechnung gestellt werden, wenn man das Projekt einer Selbstaufklärung im 21. Jahrhundert verfolgen möchte: Bei der Aufforderung, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, ist ja
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