Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
längst nicht mehr klar, was das eigentlich ist und wem er gehört, der eigene Verstand. Kant formulierte sein Programm in einer Welt, in der in Deutschland pro Jahr ca. 2600 Bücher erschienen, wo 7000 Menschen eine Universität besuchten, wo 80 Prozent Analphabeten waren, [176] wo die Staatsform absolutistisch war und das Wissensregime keineswegs demokratisch. Die Menge an Gewusstem, Wissbarem und Denkbarem war viel kleiner als heute, da brauchte man nicht so viel Unterscheidungsvermögen. Heute ist es umgekehrt: Was jeder weiß, ist uferlos, ganz zu schweigen davon, was jeder wissen kann, wenn er will. Wissen ist in Zeiten des Internets eine weitestgehend egalitäre Angelegenheit, ganz anders als zu der Zeit Kants, in der soziale Unterschiede die Wissenszugänge bahnten und regulierten. Aber das Unterscheidungsvermögen fällt weit geringer aus als seinerzeit, so dass alle fast alles wissen, aber ziemlich wenig damit anfangen können – jedenfalls wenig, was helfen würde, sich seines Verstandes zu bedienen.
Selbst denken hat heute fundamental andere Voraussetzungen als vor 230 Jahren: Musste es sich damals aus der allumfassenden Verklammerung mit einer traditionalen Ordnung und Praxis befreien, muss es sich heute von der Unterschiedslosigkeit alles Verfügbaren emanzipieren. Das kann es aber nur, wenn es sich auf etwas bezieht: auf eine Vorstellung, wie man leben möchte, wie die Welt eingerichtet sein sollte. Ohne eine wie auch immer gestaltete Vorstellung von einem wünschenswerten und erreichbaren Zustand lässt sich überhaupt kein Unterscheidungskriterium entwickeln, welchen Wissensbestand, welche Technik, welches Vermögen man braucht, um sich in die vorgestellte Zukunft hineinzubewegen. Nur in einem Vorstellungshorizont, der von der schieren Gegenwart begrenzt ist, kann ein Gedanke, eine Information, eine Strategie so gut sein wie eine andere, erst unter der radikalen Diktatur der Gegenwart kann es überhaupt nur so etwas wie Alternativlosigkeit geben. Es ist die Zukunft, die die Kriterien bestimmt, nach der in einer Gegenwart zu handeln ist, und da wir wissen, dass wir diese Zukunft nicht mit Expansion meistern werden, hätten wir schon mal ein Kriterium für das, was wir nicht mehr gebrauchen und aus dem Möglichkeitsraum aussortieren können. Und positiv können wir das Sortiment des Verfügbaren danach betrachten, was wir für den Weg in die reduktive Moderne nutzen und verwenden können. Und natürlich noch erfinden müssen.
Dabei ist es ein großer Vorteil, dass wir gar kein fertiges Wissen haben, wie man aus der Kultur der expansiven in jene der nachhaltigen Moderne kommt. Ein solches Wissen muss erst entstehen und erarbeitet werden. Das freilich kann nicht im Modus intellektueller Fremdversorgung geschehen, denn das notwendige Wissen existiert nicht und kann daher auch nicht abgerufen werden. Aber es gibt Formen von Praxis, in denen solches Wissen geschöpft wird und die so etwas wie eine Alphabetisierung in Sachen Zukunftsfähigkeit begonnen haben.
Eingangs wurde dargestellt, dass es ohnehin eine falsche Vorstellung ist, dass man vom Wissen zum Handeln kommen könne; der »mind-behavior-gap« hat psychologisch viele Ursachen. Wenn aber die Welt sich wandelt, kann man ohnehin nicht vom Wissen zum Handeln kommen: Die Landkarte der nachhaltigen Moderne lässt sich nicht durch den Satellitenblick von Google-Earth abbilden, sondern muss durch tastende Schritte in eine andere Praxis sukzessive ergangen werden. Das für die nachhaltige Moderne notwendige Wissen entsteht und erprobt sich im Entwerfen, Ausprobieren, Experimentieren, Prüfen, Austauschen, Generalisieren, erneut ansetzen usf.
Selbst denken bewegt sich nicht in den abstrahierten Wissens- und Argumentationsformen intellektueller Fremdversorgung. Die Basis für Erkenntnis in der nachhaltigen Moderne ist so wenig Wikipedia, wie es Meyers Großes Konversationslexikon für die expansive Moderne war. Die Basis für solche Erkenntnis ist die zukunftsbezogene Aneignung von intellektuellen, sozialen und technischen Fähigkeiten, die man in Zukunft gebrauchen kann: für einen guten Umgang mit der Welt.
Dieses Ziel, der gute Umgang mit der Welt, lässt sich rational nicht begründen und hat mit Wissen nicht viel zu tun: Es ist ein normatives Ziel, findet seine Begründung also außerwissenschaftlich in Ideen und Vorstellungen vom Glück und in den gegebenen oder herstellbaren Möglichkeiten dazu. Insofern gründet das Wissen, das man auf
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