Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
dem Weg in die nachhaltige Moderne gebrauchen kann, auf anderen Voraussetzungen als auf Daten und Fakten: Es gründet sich auf Hoffnungen, Wünsche, Träume und Gefühle – und auf eine Praxis, die solche Produktivkräfte des Zukünftigen ernster nimmt als alle Technik- und Machbarkeitsphantasien.
Neue Gedanken gründen darauf, dass man auf vorerst unbestimmte Weise einen anderen Zustand erreichen möchte als den der Gegenwart. Deshalb sind gebrauchte Gedanken auch immer so unbefriedigend: Sie sitzen, mit Robert Musil, herum »wie die Klienten im Vorzimmer eines Anwalts, mit dem sie nicht zufrieden sind«. [177]
Staudinger denkt selbst
Als Heini Staudinger Anfang der 1990er Jahre zum Besitzer einer maroden Schuhfabrik wurde, entließ er keine Arbeiter, um den Betrieb zu sanieren, sondern schmiss die Werbeabteilung raus. Aber da Werbung sein muss, entwickelte er zusammen mit seinem Freund Didi den »Brennstoff« – eine Zeitschrift, die hauptsächlich über Nachhaltigkeitsthemen informiert, aber auch Gedichte, Songtexte und anderes Sonderbare enthält, auch ein paar Anzeigen mit Schuhen, Matratzen und Möbeln, die er inzwischen mit seiner GEA produziert. In einer der ersten Ausgaben sollte unter anderem der ins Österreichische übersetzte Text des Beatles-Klassikers »Let it be« erscheinen, für den Heini Staudinger den famosen Titel »Scheiß di ned an« gefunden hatte. Kurz vor Drucklegung kamen ihm dann doch Bedenken wegen der Leser – der »Brennstoff« sollte ja ein seriöses Produkt sein. Staudinger ging mit seinem Manuskript und seinen Bedenken zu Didi, aber der schaute ihn nur kurz an und knurrte: »Scheiß di ned an!« So landete der Text im Heft, und er liefert auch schon fast das ganze Programm, für das Heini Staudinger steht.
Eigentlich ist Staudinger die perfekte Verkörperung von jemandem, von dem alle immer dachten, dass aus ihm nichts werden würde. Unkonventionell, unberechenbar, alles Mögliche studiert, aber nichts zu Ende, jemand, der mit dem Fahrrad nach Tansania fährt, nachdem die erste Reise mit dem Moped zu lange gedauert hat, weil das Ding ständig kaputt war. Nach jahrelangem Herumstudieren gründete Staudinger sein erstes Geschäft in Wien, weil ein Freund sogenannte »Earth Shoes« aus Dänemark hatte, die ihm gefielen. Staudinger trampte nach Dänemark und bestellte gleich eine größere Menge, um sie in Österreich zu verkaufen. Geld hatte er keins für die Bestellung, und auch für die Anmietung eines Geschäfts in Wien war kein Geld da. Aber so, wie er ohne jede Mittel in Dänemark die Bestellung unterschrieben hatte, so unterzeichnete er den Mietvertrag – schließlich braucht man einen Laden, wenn man Schuhe verkaufen will. Scheiß di ned an.
Freunde liehen ihm fürs Erste kleinere Beträge, mit denen er seine Rechnungen abstottern konnte, und der Laden lief von Anfang an nicht schlecht. Das war 1980. Drei Jahre später ergab sich eine Kooperation mit einer selbstverwalteten Waldvierteler Schuhfabrik, deren Geschäfte aber leider mies liefen. 1991 fürchteten die Schuhmacher, dass sie auf den Schulden der Firma sitzenbleiben könnten, und suchten einen neuen Eigentümer. Auf diese Weise wurde Staudinger Schuhfabrikant. Sein Miteigentümer Gerhard Benkö wanderte bald darauf nach Afrika aus, und Staudinger übersiedelte sein Wiener Unternehmen, das inzwischen neben Schuhen auch Sitzmöbel und Betten produzierte, ins strukturschwache Waldviertel. Die Schuhfabrik hatte 12 Arbeiter, als Heini Staudinger sie übernahm, heute arbeiten dort 120 Leute.
Mit der Weltwirtschaftskrise startete Heini Staudingers GEA erst richtig durch – seit der Pleite der Lehman Bros. stieg der Umsatz um 100 Prozent, die Zahl der Geschäfte um 50 Prozent. Nach wie vor bezahlt Staudinger sich selbst weniger als seinen Mitarbeitern, maximal 1000 Euro im Monat. Und nach wie vor versucht er, die GEA nachhaltiger zu machen, zum Beispiel, indem so viele Materialien wie möglich direkt aus dem Waldviertel bezogen werden. Da aber nach dem Niedergang der heimischen Schuhindustrie keine Gerbereien mehr in der Region zu finden sind, liegt vor einer wirklichen Regionalisierung der Produktion noch ein weites Stück Weg.
Aber Schwierigkeiten interessieren Staudinger nicht. Er habe eben Glück, und wenn das Glück anhalte, dann werde die GEA »irgendwann einmal sogar eine richtige Firma«. Einen »richtigen Chef«, mit Business-Plan, Smartphone und keiner Zeit wird die GEA allerdings
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